Eine Kämpferin für ein Tabuthema im Porträt
Neukölln. Marie-Luise Oswald gründete 1983 den Verein Lesen und Schreiben in Neukölln, den sie bis 2007 als Geschäftsführerin leitete. Über 2000 Analphabeten lernten bei ihr. Warum sie wieder Alphabetisierungskurse machen möchte, erzählt sie im fünften Teil der Serie „Unser Kiez – Rund um die Schillerpromenade“.
Es ist ein warmer und sonniger Frühlingstag, den Marie-Luise Oswald eigentlich in ihrem kleinen beschaulichen Garten im Hinterhof ihrer Mietwohnung in der Herrfurthstraße genießen könnte – wenn es ihr gesundheitlich besser ginge. Mittlerweile ist die 73-Jährige auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen und auf die Hilfe von Freunden, die ihr immer mal wieder zur Hand gehen, wo es gerade nötig ist. Unterwegs im Schillerkiez, wo sie seit Jahrzehnten lebt, ist sie nicht mehr so häufig. Aber wenn, dann wird sie immer noch von Nachbarn angesprochen. Das liegt vor allem daran, dass die meisten von ihnen wissen, welcher Lebensaufgabe sich die Diplom-Pädagogin über mehrere Jahrzehnte widmete.
Bis 2007 war sie Geschäftsführerin des Vereins Lesen und Schreiben am Herrnhuter Weg 16. Im Laufe von fast 25 Jahren brachte sie nach eigenen Schätzungen etwa 2000 Menschen das Lesen und Schreiben bei. Die meisten sind so genannte funktionale Analphabeten, Menschen, die zwar Lesen und Schreiben gelernt haben, dabei aber erhebliche individuelle Defizite haben. 14,5 Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. Das nach wie vor größte Problem an diesem Tabuthema ist die Tatsache, dass die meisten Analphabeten versuchen, ihr Problem zu verstecken und die Umwelt es daher nicht bemerkt.
Marie-Luise Oswald schaffte es, Zugang zu diesen Menschen zu bekommen. Zusammen mit einem Kollegen bot sie bereits vor Ende ihres Pädagogik-Studiums Kurse für Analphabeten an der Volkshochschule Wedding an. Sie war Mitbegründerin des Arbeitskreises Orientierungs- und Bildungshilfe, bevor sie 1983 in den hinteren Räumen ihres Trödelladens mit sechs Lernern die ersten Neuköllner Alphabetisierungskurse startete. „Ich zog mein eigenes Ding durch, hatte aber auch schon einige Erfahrung gesammelt“, erzählt Marie-Luise Oswald. Später entwarf sie selbst Programme für den Unterricht von Analphabeten und schrieb Lehrbücher.
„Finanziell war es immer ein Balanceakt. Wir mussten alles selbst tragen“, sagt sie. Mit den Jahren kamen ehrenamtliche Lehrer hinzu – und die Wertschätzung des Bezirks. Das Arbeitsamt übernahm öfter die Kurskosten, um arbeitslose Analphabeten fit für den Job zu machen. Einzelne Projekte unterstützte der Bezirk, für andere wurden EU-Mittel beantragt. 2007 zog sich Marie-Luise Oswald aus dem Verein zurück. Heute muss sie von einer kleinen Rente leben. Im Schillerkiez fühlt sie sie immer noch Zuhause. „Hier kenne ich so viele Menschen“, sagt sie. Oft wird sie auf der Straße von Nachbarn gebeten, noch einmal zu unterrichten. Marie-Luise Oswald ist sich trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit sicher: „Gerne würde ich wieder Kurse anbieten, wenn sich dafür genügend Unterstützer fänden.“ SB
Autor:Sylvia Baumeister aus Neukölln |
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