Drei Sekunden und ein Leben ist zerstört: Deutscher Kinderverein startet berlinweite Schütteltrauma-Kampagne
Neukölln. „Schreien kann nerven. Schütteln kann töten“: Das ist auf Werbeflächen in ganz Berlin zu lesen. Die berlinweite Kampagne des Deutschen Kindervereins wird auch von Gesundheitsstadtrat Falko Liecke und der Bundestagsabgeordneten Christina Schwarzer (beide CDU) unterstützt. Am 19. Juli stellten die Akteure sie bei der Stadtmission, Lenaustraße 3, vor.
Babys, die nicht zu beruhigen sind; Eltern, die die Nerven verlieren: Drei Sekunden können ein ganzes Leben zerstören. In diesem Jahr sind allein in Berlin und Brandenburg 13 Schütteltrauma-Fälle bekannt geworden, drei Säuglinge starben. Das Schütteln sei die häufigste Todesursache bei Kindern unter zwei Jahren, so Dr. Saskia Etzold von der Gewaltschutzambulanz der Charité.
Finanziert dank Sponsoren
Aufklärung sei dringend notwendig, sagte Rainer Rettinger, Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins, doch die Bundesregierung tue sich mit einer landesweiten Aufklärungsaktion schwer. „Wir wollen aber nicht nur reden, sondern handeln.“ Mit der Charité, der Firma Wall, die Werbeflächen zur Verfügung stellt, und anderen Mitstreitern habe er die Kampagne innerhalb weniger Monaten auf die Beine gestellt – finanziert dank Sponsoren und Spendengeld.
„Ich kann viel ertragen, aber nicht, dass Kinder Opfer von Gewalt werden – ausgeübt von jenen, die sie schützen sollen“, sagte Professor Michael Tsokos, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité und Mitautor des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Es sei höchste Zeit, das Thema in die breite Öffentlichkeit zu bringen.
Die Folgen sind enorm
Dabei helfen will auch der Sänger Andreas Bourani als Botschafter des Deutschen Kindervereins. Das Thema sei unbequem, liege ihm aber umso mehr am Herzen. „Viele denken, ein Baby zu schütteln, sei nur eine Kleinigkeit, dabei sind die Folgen enorm. Für einen Erwachsenen wäre das so, als würde er von einem sechs Meter großen, zwei Tonnen schweren Riesen geschüttelt.“
Die Symptome eines Traumas, bei dem Nervenfortsätze im Gehirn reißen, sind von Fall zu Fall unterschiedlich und werden von den Eltern oft nicht erkannt: Krampfen, Schläfrigkeit oder Erregung, Erbrechen, Fieber, Nahrungsverweigerung. Zwar überleben rund 80 Prozent der Kinder, doch nur jedes zehnte erholt sich vollständig. Die anderen leiden unter teils schweren Folgen: Lähmungen, epileptische Anfälle, geistige Defizite, Blindheit oder Sehschwächen. „Jeder sollte versuchen, sich im Vorfeld ganz sachlich klarmachen: Wenn ich mein Baby schüttele, habe ich vielleicht ein behindertes Kind“, so Michael Tsokos. Verständnis für überforderte Eltern hat er durchaus: „Ich weiß sehr gut, dass Kinder einen völlig fertigmachen können“, sagte der fünffache Vater.
Früh Hilfe holen
Für Mütter und Väter sei es deshalb wichtig, sich Hilfe zu holen. In Neukölln gibt es dafür eine besondere Anlaufstelle: „Wir haben als einziger Bezirk eine eigene Schreibabyambulanz“, so Gesundheitsstadtrat Falko Liecke. Auch die Ehrenamtlichen der „Wellcome“-Gruppen würden entnervten Eltern von Neugeborenen beistehen.
„Entscheidend ist, dass die Erwachsenen von ihrem Stresslevel runterkommen, sich stundenweise entlasten lassen, aus der Wohnung gehen“, sagte Saskia Etzold. Und wenn das nicht möglich sei: Schallschutzkopfhörer und Oropax. Michael Tsokos: „Die Tür zumachen, Fernseher lauter stellen, das Kind mal eine Stunde schreien lassen – daran stirbt es nicht.“ sus
Autor:Susanne Schilp aus Neukölln |
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