Die Kellerassel mit Gequassel: Wolfgang Neuss und das „Domizil“ im Haus am Lützowplatz
Das Haus am Lützowplatz, kurz HaL, will nach eigenem Bekunden ein Ort der Wertedebatte und der „kritisch reflektierten Wirklichkeit“ sein. Den Brückenschlag dorthin leistet heute zuvörderst die zeitgenössische bildende Kunst. In den 60er-Jahren ist etwas anderes prägend, die Restaurantbar „Domizil“ – und Wolfgang Neuss.
Konrad „Jule“ Hammer, Galerist, kulturpolitischer Autor, SPD-Parteisekretär und damaliger HaL-Leiter, richtete im Souterrain des Vorderhauses die Kneipe ein. Ab 1963 trat dort Wolfgang Neuss auf, „unbestritten einer der schärfsten Kabarettisten der Nachkriegszeit“, wie ihn Günther Jauch 1988 vorstellte. Neuss, Sohn eines Fliegeroffiziers aus dem Geschwader Richthofen, 1943 Maschinengewehrschütze an der Ostfront, gelernter Schlachter, dessen Karriere Ende der 40er-Jahre als Conférencier im Hamburger Hansa-Theater beginnt, taufte das „Domizil“ auf „Loch Neuss“ und unterhielt dort das Publikum mehr als 700-mal.
Wolfgang Neuss war Mitglied des „Förderkreises Kulturzentrum Berlin“. Der Trägerverein des Hauses am Lützowplatz, einer 1873 erbauten Stadtvilla, wurde im April 1960 gegründet, nach einem Beschluss des Landesparteitags der Berliner SPD im Jahr zuvor. Der Parteichef und Regierende Bürgermeister Willy Brandt hatte einen „Kulturclub“ gefordert.
Wolfgang Neuss’ erstes Programm trägt den Titel „Das letzte Gerücht“. Die Ein-Mann-Show hatte im Dezember 1963 Premiere. „Eine Kellerassel begrüßt Sie hier mit gregorianischem Gequassel. Guten Abend, Ihr lieben Menschen aus Ost und West. Guten Abend im Widerstandsnest. Guten Abend, Girls und Boys, hier begrüßt Sie der Thersites vom Lützowplatz, das Ungeheuer von Loch Neuss.“ So begann „der Mann mit der Pauke“ ironisch-selbstkritisch die Show. Thersites ist in Homers Ilias ein hässlicher, schmähsüchtiger, verachteter, verhasster und erfolgloser Demagoge.
Zwei Jahre lang sorgte Neuss’ Auftritt für ein ausverkauftes Haus. Die Presse jubelte. Es folgten die Villon-Show „Neuss Testament“ („Die Westberliner Kunst serviert als Paprika vom Teller, o lá lá, ne Currywurst. Kulturzentrum, das ist Marika Röck und Walter Höllerer. Die Industrie hat einen Schock und geht am Stock. Wie wär’s mit Westberlin als Intershop für’n Ostblock“), „Asyl im Domizil“ und ab 1968 „Marxmenschen“, auch dieses Programm mit einer netten Anspielung auf die Spielstätte: „Mal was Privates: Haben Sie zufällig meine Katze hier reinlaufen sehen? Die ist mir aus der Garderobe hier rein entwischt. Falls Sie sie sehen, geben Sie sie bitte an der Theke ab. Nicht, dass wir in der Pause falschen Hasenbraten servieren wollen. Es gibt hier eine ausgezeichnete Gulaschsuppe. Wir sind direkt ans Wasserwerk angeschlossen. Sie wissen Bescheid: Ich spiele nicht nur für Sie, sondern auch für die Katz'.“
1973 zog sich Neuss zurück, „um unbekannt zu werden“, wie es in einem Fernsehnachruf auf den Künstler hieß. Der „absolute Bühnen-, Fernseh- und Kabarettstar“ (nochmals Günther Jauch) verlor sich an die Apo und an Drogen. Der Millionär, Jaguar-Fahrer und Playboy, der Erfolgsverwöhnte, einer der Besten der deutschen Brettlgeschichte ging vor die Hunde. Leberkrebskrank, ohne Zähne und mit fettiger Zottelmähne hauste er als Sozialhilfeempfänger in seiner Charlottenburger Wohnung. Am 5. Mai 1989 starb Wolfgang Neuss. Er wurde 65 Jahre alt.
Das „Domizil“ nahm ab 1999 als Tanzclub „Trompete“ den Betrieb neu auf. Gründerväter waren Ben Becker und Dimitri Hegemann. Kabarettschnauzen treten hier nicht mehr auf.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.