Im Gespräch mit den Kiezbewohnern
Serafina Serra und Christina Seidel machen mobile Stadtteilarbeit im Salvador-Allende-Viertel
Ein sonniger Mittag im Allende-Viertel. Im Schatten eines großen Baums stellt Christina Seidel das Lastenfahrrad ab. Auf der Wiese nahe der modularen Unterkunft für Geflüchtete wird sie mit ihrer Kollegin Serafina Serra in den kommenden drei Stunden Gespräche mit Anwohnern führen. Mitgebracht haben sie Tee, Kaffee und Kekse, eine Decke, zwei Tische und ein paar Stühle.
Ein bisschen Gemütlichkeit muss schon sein, schließlich soll die Atmosphäre für einen offenen Austausch stimmen. „Authentisch sein, hinsetzen und erstmal schnacken“, fasst Christina Seidel zusammen, wie sie auf fremde Menschen zugeht. Mobile Stadtteilarbeit heißt das Angebot, das es bereits in 36 Kiezen in Berlin und seit Anfang Mai auch im Allende-Viertel gibt. Träger ist der Verein „offensiv‘91“. Die Förderung durch den Europäischen Sozialfonds läuft bis Juni 2023.
Christina Seidel und Serafina Serra sollen für eine Wiederbelebung nachbarschaftlicher Beziehungen sorgen, die nach dem Ausbruch der Pandemie zum Erliegen gekommen sind. Es geht um gegenseitiges Kennenlernen, nachbarschaftlichen Austausch und Vernetzung. Die Bewohner des Viertels sollen ermutigt werden, über ihre Bedürfnisse und Interessen zu sprechen und sich zusammenzuschließen. Die beiden Frauen sind jedoch keine Sozialarbeiterinnen. Sie bilden ein Zweierteam, wie es unterschiedlicher kaum sein könnte. Christina Seidel bezeichnet sich selbst als „klassische Quereinsteigerin“. Die 35-Jährige ist gelernte Automechanikerin. Sie studierte Philosophie, um anschließend eine Ausbildung zur Krankenschwester anzufangen. Die Schichtarbeit habe für sie nicht gepasst, doch der Umgang mit den Patienten habe ihr gut gefallen. Dabei habe sie gemerkt, dass sie gut mit den verschiedenen Menschen reden könne, wie sie erzählt.
Serafina Serra ist Italienerin. Sie stammt von der Insel Sardinien. Erst vor zwei Jahren kam sie nach Berlin. Hier angekommen, arbeitete sie in sozialen Projekten wie dem Zirkus Cabuwazi in Alt-Treptow und als Projektmanagerin in einer Nichtregierungsorganisation. Die 28-Jährige hat in Turin indische Sprachen in der Literatur studiert. Neben Hindi und Sanskrit spricht sie auch Französisch. Erzählt sie auf Deutsch von sich, sucht sie gelegentlich noch nach dem passenden Wort. Dass sie keine Muttersprachlerin ist, sieht sie aber nicht als Nachteil. Vielmehr würden ihre vielseitigen Sprachkenntnisse ihr sehr bei der Arbeit helfen, insbesondere bei der Kommunikation mit Menschen aus der im Frühjahr eröffneten Flüchtlingsunterkunft in der Salvador-Allende-Straße. „Leute aus Afghanistan sprechen oft Hindi. Sie lernen das durch das Fernsehen“, erklärt sie.
Beide Frauen kannten das Viertel bis vor Kurzem selbst noch nicht. Sie wohnen in Neukölln. Seidel fing erst im April beim Verein „offensiv‘91“ an, nachdem sie sich für eine ausgeschriebene Stelle beworben hatte. Serra ist seit März dabei. Obwohl sie sich anfangs habe anhören müssen, aufgrund fehlender Ortskenntnis an Glaubwürdigkeit zu verlieren, kann Christina Seidel darin sogar einen Vorteil erkennen. So könne sie ganz locker in das Gespräch einsteigen. Es sei toll, so viele unterschiedliche Leute zu treffen und so viel unterwegs zu sein, ergänzt Serafina Serra. Im ersten Monat hätten etwa 20 Menschen ihr Gesprächsangebot angenommen. Was die Menschen im Allende-Viertel aktuell bewegt, seien unter anderem fehlende Sitzbänke, Hundeauslaufflächen und Hundekotbeutelspender sowie die Nachverdichtung mit Wohnungen. Häufiger angesprochen worden sei auch der herumliegende Müll. Dafür seien keine Jugendlichen verantwortlich, sondern Krähen, die den Abfall aus den Mülleimern picken. Gefordert würden deshalb Abfallbehälter mit Deckel. Seidel und Serra sammeln solche Vorschläge und Wünsche, um sie später an die entsprechenden Verantwortlichen weiterzuleiten. Vom Allende-Viertel haben sie in der kurzen Zeit bereits einen guten Eindruck gewinnen können. Schön grün sei es dort. Trotz der Größe des Kiezes gehe es nicht anonym zu. „Die Leute kennen sich sehr wohl untereinander“, sagt Christina Seidel. Schade findet sie, dass Projekt nur bis Juni 2023 läuft. Dann drohen die Beziehungen, die sie gerade aufbauen, wieder abzureißen.
Mit ihrem Lastenrad sind die Frauen dienstags auf der Wiese hinter dem S-Block sowie mittwochs neben der Flüchtlingsunterkunft (jeweils 12 bis 15 Uhr) anzutreffen. Donnerstags steht von 9 bis 15 Uhr ihr Büro in der Pablo-Neruda-Straße 12-13 offen. Kontakt: allende@offensiv91.de.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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