Der Direktor, der die Bücher liebte
Schulprojekt erinnert an Oscar Jolles
Würde Oscar Jolles heute leben, wäre er vielleicht als Lesepate aktiv, war eine Ansicht. Die Veränderungen im Schrift-, Druck- und Medienbetrieb würde er sicher interessiert verfolgen, gleichzeitig weiter seinem Faible für das Seltene und Schöne frönen, eine andere.
Vermutungen über einen Mann, der seit 90 Jahren tot ist. Vorgebracht am 11. März bei einer Erinnerungsveranstaltung in der Schule für Erwachsenenbildung (SfE) im Mehringhof.
Der Mehringhof ist ein linksalternatives Gewerbe-, Bildungs -und Kulturensemble, das sich seit fast 40 Jahren auf einem ehemaligen Firmengelände an der Gneisenaustraße 2a befindet. Einst befand sich dort die Schriftgießerei H. Berthold AG. Sie gehörte in ihren Hochzeiten zu den weltweit führenden Firmen dieser Zunft. Zu verdanken war das nicht zuletzt Oscar Jolles, der von 1900 bis zu seinem Tod am 11. März 1929 leitender Direktor der Berthold AG war. Ihm zu Ehren hat die SfE nicht nur den Gedenkabend organisiert, sondern auch eine Broschüre herausgebracht, die sein Leben und Werk würdigt.
"Bleilettern aus Kreuzberg"
Die Schule für Erwachsenenbildung gehört zu den Mehringhof-Nutzern der ersten Stunde. Selbstverwaltet bereitet sie Schülerinnen und Schüler auf den Mittleren Schulabschluss und die Allgemeine Hochschulreife vor. Und sie recherchiert in einem Projekt seit 2013 die Unternehmensgeschichte von Berthold. Auslöser war ein Zeitungsartikel, auf den Lehrer Hermann Werle stieß. Darin wurde berichtet, dass auch in dieser Firma während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter beschäftigt waren.
Erstes Ergebnis der Nachforschungen war das Buch "Bleilettern aus Kreuzberg erobern die Welt", das vor knapp vier Jahren erschien (siehe Berliner Woche, 4. Juni 2015). Eine weiteres eine Dauerausstellung, die seither in der Schule zu sehen ist. Eine Erkenntnis der Recherche: Zwangsarbeit hat es bei Berthold in geringerem Ausmaß gegeben als in vergleichbaren Betrieben. Auch insgesamt gehörte die Schriftgießerei anscheinend nicht zu den willigen Vollstreckern des Naziregimes. Erst 1938, als sie dazu per Gesetz genötigt wurde, trennte sie sich von den letzten jüdischen Aufsichtsräten. Das ist zwar keine Widerstandsgeschichte, weist aber zumindest auf ein gewisses Widerstreben hin. Wahrscheinlich, so die Vermutung, ist das ein Erbe von Oscar Jolles. Dass er die prägende Gestalt der Firma in den ersten knapp drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war, wurde den SfE-Forschern bereits bei ihrem Buchprojekt deutlich. Und führte zu weiterer Spurensuche.
Assimiliert und erfolgreich
Oscar Jolles wird 1860 in Berlin in eine Familie mit jüdisch-polnischen Wurzeln hineingeboren. Er wächst in Dresden auf und absolviert zwischen 1878 und 1882 eine Ausbildung im Bankhaus Jaquier & Securius. Bei seinem späteren Einstieg in der Gneisenaustraße spielt diese Lehrzeit wahrscheinlich eine Rolle. Denn das Geldinstitut ist die Hausbank von Berthold.
Jolles studiert Nationalökonomie, ist nach seiner Promotion als Assistent für die Reichsbank in verschiedenen Städten tätig und amtiert von 1892 bis 1899 als Direktor der Dampfbrennerei und Presshefe-Fabriken in Hamburg-Wandsbek, damals Deutschland größte Destillerie für hochprozentigen Schnaps. Berthold wächst unter seiner Ägide zum nationalen und bisweilen internationalen Platzhirsch heran. Ein Schaubild zeigte ein Geflecht von Firmen, die zum Konzern gehörten. Einschließlich ausländischen Dependancen, vor allem in Mittel- und Osteuropa.
Oscar Jolles war der Prototyp eines erfolgreichen Großunternehmers seiner Zeit. Auch nationale Töne waren ihm nicht fremd. Seine Haltung ist am besten mit der eines assimilierten Bürgers jüdischer Herkunft zu beschreiben. Dass es Antisemitismus gab, blieb auch ihm nicht verborgen. Aber der ließ sich doch mit Zugehörigkeit, Leistung, auch Vaterlandsliebe, bekämpfen, dachte er. Jolles Biographie ist deshalb ein Beispiel für die Lebensgeschichten vieler deutscher Juden. Seit 1870 galten sie formell als Staatsbürger ohne zuvor vorhandene Einschränkungen. Was in vielen Bereichen für einen Innovationsschub sorgte. Gleichzeitig blieb oder blühte sogar die heimliche oder offene Ablehnung. Innerhalb der jüdischen Gemeinden gab es die Debatte über den Zionismus, also dem Wunsch nach einem gemeinsamen Heimatland sowie den Rückgriff auf die eigene Kultur. Dem gegenüber stand der Verweis auf die schon vorhandene Heimat. Auch das spielte beim Jolles-Abend eine Rolle, etwa durch Referate von drei Schülerinnen. Und es führte zu seinem kulturellen Erbe.
Darauf verwiesen Kerstin Wallbach von der Abteilung Schreib- und Drucktechnik der Stiftung Deutsches Technikmuseums und Bernhard Jensen, Bibliothekar des Jüdischen Museums. Jolles habe bei Berthold viele aufwändig gestaltete Druckwerke des Schriftgießergewerbes auf den Weg gebracht. Etwa ein Musterbuch hebräischer Schriften. Denn er war Zeit seines Lebens ein "Bibliophiler", also jemand, sich für besonders liebevoll hergestellte Literaturprodukte begeistern konnte. Ausgedrückt wurde das auch in seiner Mitgliedschaft und langjährigen Vorstandstätigkeit in der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buchs.
Junge und alte Zuhörer
Durch seinen frühen Tod sind ihm die Schrecken des Nationalsozialismus erspart geblieben, heißt es in seiner Gedenkbroschüre. Anders als seiner Frau Gertrud und der Tochter Marina, die 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurden. Überlebt hat Sohn Heinz. Er emigrierte zunächst nach Paris, später nach Brasilien und wurde als Pianist bekannt.
Der Abend in der Schule stieß auf ein ziemlich großes und in seiner Zusammensetzung nicht alltägliches Interesse. Im Publikum befanden sich zum einen viele ältere Besucher. Bei einigen handelte es sich um ehemalige Mitarbeiter der Firma Berthold. Auf der anderen Seite kamen eine Menge jüngerer Zuhörer. Häufig aktuelle oder ehemalige Absolventen der SfE.
Sie alle sind oder waren Teil des Mehringhofs. Ebenso wie Oscar Jolles und die Geschichte der Schriftgießerei.
Die Broschüre "Oscar Jolles. Zur Erinnerung an einen Buchliebhaber, Förderer der Gutenberg'schen Kunst und hebräischen Lettern" kostet vier Euro und ist in der Schule erhältlich. Weiteres auch unter www.sfeberlin.de.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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