Stadtspaziergang
Das pralle Leben in Neukölln
Zu meiner 225. monatlichen Tour lade ich Sie in die Karl-Marx-Straße ein. Dort mitten im Zentrum Neuköllns tobt das Leben. Menschen aus 160 Nationalitäten sollen im Bezirk leben. Das spürt man auch, wenn man die Gegend rund ums Neuköllner Rathaus besucht.
Wer oberirdisch und nicht mit der meist vollbesetzten U-Bahn den Bezirk durchquert, bemerkt sofort, dass die bis 1920 noch selbstständige Stadt ihre Gene vom alten Berliner Norden und Osten hat. Denn auch hier stehen fünfgeschossige Gründerzeit-Mietshäuser nebeneinander, dahinter zwei oder drei enge Hinterhöfe. Und wie im unweiten Babelsberger Filmstudio, wo man in der Freiluft-Kulisse „Berliner Straße“ die Häuserfronten bei jedem neuen Dreh umdekorierte, geschieht es auch hier – im Leben. So haben sich die früher knallbunten Ladenschilder der türkischen Händler inzwischen eher dem Berliner Durchschnitt angepasst, die Angebote sind ringsum aber noch viel exotischer als anno dunnemals.
Vor genau 125 Jahren hatte die damalige Umlandgemeinde Rixdorf schon 80 000 Einwohner und bekam eigenes Stadtrecht. Da lag die Vereinigung der beiden Dörfer, des nach 1200 gegründeten Deutsch-Rixdorf und des vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm für tschechische Glaubensflüchtlinge 1737 parzellierten Böhmisch-Rixdorf, schon Jahrzehnte zurück. Die junge Stadt wuchs mit Industrieansiedlungen, dem Zuzug vieler Arbeitssuchender und Familien bis 1910 rasant auf über 237 000 Bewohner. Zwei Jahre später genehmigte der Kaiser ihr den neuen Namen: Neukölln. Eine pfiffige Idee des Rixdorfer Rates, lag doch gleich nebenan die Köllnische Heide, jener große Wald, der seit dem Mittelalter Cölln, der Stadt auf der Spreeinsel gehörte.
Wussten Sie, dass infolge des Baus der mächtigen barocken Festung bald nach dem Dreißigjährigen Krieg nah beim nun wachsenden Berlin auch Cöllns südlicher Stadtteil Neu-Cölln am Wasser entstand? Eine neue Insellage, umschlossen vom Spreekanal und dem später verfüllten alten Festungsgraben. Der Name “Neukölln am Wasser“ hielt noch bis 1931 für die linksseitige Gracht am Kanal Seitdem heißt die historische Häuserzeile nach dem 1908 entstandenen Märkischen Museum: Märkisches Ufer. Man war es leid, Leuten, die sich verlaufen hatten, jedes Mal den Weg ins entfernte Neukölln zu erklären.
Neukölln war nach Gründung Groß-Berlins 1920 unter Einbeziehung dreier Dörfer Berlins bevölkerungsreichster Bezirk. Mit aktuell über 300.000 Bewohnern ist er es im Vergleich der Altbezirke immer noch, blieb darum so erhalten.
Der Heimathafen Neukölln liegt mitten im Häusermeer. Auf trockenem Grund und ohne Wasserstraßenanschluss – trotz aller Kanalstrecken im Bezirk. Dafür flossen hier schon vor 150 Jahren die Getränke durch durstige Kehlen, denn ein umtriebiger Gastwirt aus Böhmisch-Rixdorf hatte ein Bauensemble aus Wirtshaus, Salon und Ballsaal eröffnet. Seitdem war hier viel los, in guten wie in schlechten Zeiten, diverse Theater wurden gegründet, unterhielten das heimische Publikum mit Klassik und Possen. Berühmt wurde das Festmahl am 27. Januar 1912, als im Großen Saal Kaisers Geburtstag und die Umbenennung der Stadt gefeiert wurden.
Im 20. Jahrhundert sind hier zweimal Kinos eröffnet worden. Doch als die Gegend plötzlich in eingemauerte, bald auch ärmliche Stadtrandlage geriet, ging es 20 Jahre lang bergab – bis zur Planung der 750-Jahr-Feier Berlins. So kam das Traditionshaus wieder in warmen Regen, ließ die Ruinen-Existenz hinter sich. „Heimathafen Neukölln“ ist der des „frauenreichen Teams“, das seit 15 Jahren den wunderschönen Gebäudekomplex übernahm, vielfältiges Programm bietet, Angebote für die ganze Familie, leichte Kost, aber auch Anspruchsvolles und aktuelle Themen.
Wer den rasanten Aufschwung Rixdorf-Neuköllns zu Beginn des vorigen Jahrhunderts begreifen will, der kommt nicht an der Person des Architekten Reinhold Kiehl (1874-1913) vorbei. Als noch junger Mann zum Stadtarchitekt von Rixdorf berufen, begann er als 30-Jähriger mit dem Bau des großen Rathauses. Dessen 68 Meter hoher Turm erinnert an die Straßenfront-Lage des Rathausturms von Kiehls Geburtsstadt Danzig, gebaut einst in norddeutscher Backsteingotik, an die noch älteren vierseitig-steinernen Geschlechtertürme der Toskana, wie auch an Regensburger, Augsburger Renaissancetürme. Reinhold Kiehl hat in den ihm verbleibenden acht Lebensjahren nicht nur das Rathaus und das schöne Stadtbad errichtet, wie manch anderen auffälligen Bau der jungen Stadt.
Auch die „Passage“: Hier spielt die Neuköllner Oper schon lange Musiktheater. So hatte vor 20 Jahren Stückeautor Lutz Hübner im Singspiel „Die letzte Show“ eine noch junge Tante wegen Leichtsinns mit Hit-Musik-Kassetten auf der Autobahn sterben lassen, was dann ihre Nichte beim erstmaligen Berlin-Besuch ausbadete. Und eben noch, auch am 21.9. abends läuft letztmalig Lutz Hübners und Sarah Nemitz neueres Familien-Frust-Stück „Daddy unplugged“, hier mit Vinyl LP-Hits und poetischen Krankenhausflur-Geschichten der neueren Zeit. Tagsüber sind im ganzen Haus Proben zum Musiktheater-Einakter Subotnik nach dem Libretto von Ferdinand von Schirach über eine junge Deutschtürkin, die nach dem Jurastudium ihren ersten, sehr krassen Fall als Strafverteidigerin übernimmt. Die Premiere ist am 22.9. (gespielt wird bis 8. November).
Über dem Rathausvorplatz kreisen die Tauben. Ihr Lieblingssitzplatz ist der Rathausbrunnen, der in der Tschechischen Republik von der Fachhochschule Hořice vor 30 Jahren hergestellt wurde, 100 Kilometer nordöstlich von Prag. Nicht einmal 1000 Meter sind es vom Neuköllner Rathaus zum alten Böhmisch-Rixdorf!
Der Rundgang beginnt am Sonnabend, 21. September, um 11 Uhr. Treffpunkt ist der Heimathafen Neukölln, Hofgarten, Karl-Marx-Straße 141 – zu erreichen mit der U-Bahn-Linie U7 bis U-Bahnhof Karl-Marx-Straße, Südausgang. Die Tour wiederhole ich am Sonnabend, 28. September, um 14 Uhr. Die Teilnahme kostet dann aber neun, ermäßigt sieben Euro. Telefonische Anmeldung dafür unter Tel. 442 32 31.
Die Führung am 21. September ist für Leser der Berliner Woche und des Spandauer Volksblatts kostenlos. Allerdings ist eine Anmeldung erforderlich: Am Dienstag, 17. September, in der Zeit von 10 bis 12 Uhr anrufen unter Tel. 887 27 73 07.
Autor:Bernd S. Meyer aus Mitte |
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