Die Geschichte von 24 Verschwundenen
Ingke Brodersen hat ein Buch über das Schicksal der ehemaligen Bewohner ihres Hauses geschrieben

Ingke Brodersen leitete den Verlag Rowohlt Berlin, gab eine Zeitschrift für das Goethe-Institut heraus, organisierte Demokratie- und Kommunikationstraining an Berliner Brennpunktschulen. Seit Jahren unterstützt sie zudem Flüchtlinge. | Foto: Ken Yamamoto
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  • Ingke Brodersen leitete den Verlag Rowohlt Berlin, gab eine Zeitschrift für das Goethe-Institut heraus, organisierte Demokratie- und Kommunikationstraining an Berliner Brennpunktschulen. Seit Jahren unterstützt sie zudem Flüchtlinge.
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Jahrzehnte, nachdem sie in das Haus an der Berchtesgadener Straße 37 im Bayerischen Viertel gezogen ist, hat sich die Historikerin Ingke Brodersen auf Spurensuche begeben. In „Lebewohl, Martha“ erzählt sie die Geschichten der jüdischen Familien, die hier einst lebten. Mitte April ist das Buch im Kanon Verlag erschienen.

„Ich erzähle von zerbrochenen Ehen, gewaltsamen Trennungen, von Selbstmorden, Vertrauensverlust und von zerschnittenen Lebensfäden selbst der Entkommenen“, schreibt die Autorin in ihrem Vorwort. Akribisch hat sie das Schicksal von 24 Frauen, Männern und Kindern recherchiert, die in dem Haus lebten, bevor die Nationalsozialisten sie zur Flucht zwangen oder sie deportierten und in den Tod schickten. Bewegend schildert Ingke Brodersen die persönlichen Geschichten der Verschwundenen, die ihr während der Arbeit immer mehr ans Herz wachsen sollten. Sie berichtet von Siegfried Kurt Jacob, Eigentümer des Hauses, der mit viel Glück in der Illegalität überlebte, seinem Sohn, der mit einem Kindertransport nach England geschickt wurde und dort bei einer Pflegemutter aufwuchs, von der Pianistin Martha Cohen, die in Theresienstadt starb, der Nachbarin, die in Auschwitz ermordet wurde, und all den anderen.

Die einzelnen Biografien sind erschütternd, gleichzeitig weisen sie über sich hinaus. Ingke Brodersen berichtet anhand der Einzelschicksale von den menschenverachtenden Strategien der Nazis, um die Stadt und das gesamte Deutschland „judenfrei“ zu machen. Dazu gehörte die systematische Entrechtung, die Juden nach und nach völlig aus dem öffentlichen Leben ausschloss. Ab 1942 durften sie zudem keine Bücher, Zeitungen, Fleisch, Milch oder Eier mehr kaufen. Selbst Haustiere waren verboten.

Die Nationalsozialisten profitierten in vieler Hinsicht von der Unterdrückung der Juden, auch in Sachen Wohnungspolitik. In Berlin mangelte es an Wohnraum, zudem ließ Generalbauinspektor Albert Speer Tausende von Häusern abreißen, um seine Pläne einer „Weltstadt“ samt Monumentalbauten und breiten Prachtstraßen zu verwirklichen. Um Platz für die „arischen Volksgenossen“ zu schaffen, kündigte man Juden die Wohnungen.

Sie wurden in Häuser zwangseingewiesen, die (noch) im Eigentum anderer Juden waren. Dazu gehörte die Berchtesgadener Straße 37. Auch hier mussten die Mieter zusammenrücken und ihre Wohnungen plötzlich mit Fremden teilen. Die braunen Machthaber bereicherten sich in allen denkbaren Formen. Sie beschlagnahmten Vermögen der Juden oder froren sie auf „Sperrkonten“ ein, ließen sich Ausreisegenehmigungen, solange sie noch erteilt wurden, teuer bezahlen. Sie versteigerten Möbel und anderes Eigentum der Entrechteten zu Spottpreisen, später auch ihre Häuser und, und, und. Nicht selten gehörten „ganz normale“ Bürger zu den begeisterten Nutznießern. All diese Repressalien lernten auch die Bewohner im Bayerischen Viertel kennen.

Einige von ihnen verließen Deutschland. Ingke Brodersen verfolgt ihre Wege in die USA, nach Mailand, England, ins Warschauer Ghetto. Doch dem Nazi-Regime zu entkommen, wurde immer schwieriger. Erschreckend ist auch, wie viele Länder sich weigerten, Juden aufzunehmen, ihnen die Einreise erschwerten oder Visa nur gegen hohe Bestechungsgelder erteilten. Aber auch wem die Flucht gelang, der wurde oft nicht glücklich. Viele verkrafteten den Verlust der Heimat nicht oder waren zu erschöpft für einen Neuanfang. Darauf aufmerksam zu machen, dass auch heute viele Menschen flüchten müssen, ist Ingke Brodersen ein wichtigen Anliegen. Als ehrenamtliche Deutschlehrerin hat sie Menschen aus Bosnien, Afghanistan, Syrien und anderen Ländern kennen und schätzen gelernt. Ihre Geschichten flicht sie zwischen den Kapiteln über die Menschen aus der Berchtesgadener Straße ein – und verbindet so Vergangenheit und Gegenwart.

Ingke Brodersen „Lebewohl, Martha“, Kanon Verlag, 26 Euro, ISBN 978-3-98568-074-0.

Ingke Brodersen leitete den Verlag Rowohlt Berlin, gab eine Zeitschrift für das Goethe-Institut heraus, organisierte Demokratie- und Kommunikationstraining an Berliner Brennpunktschulen. Seit Jahren unterstützt sie zudem Flüchtlinge. | Foto: Ken Yamamoto
Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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