Reise durch mehrere Epochen
Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin bewahrt historische Dokumente
Aus einem Karton zieht Sabine Musial einen verstaubten Stapel Briefe. Sie stammen aus der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis in die 60er-Jahre und wurden von einer Familie aus Karlshorst gesammelt. Das Paket hat sie erst kurz zuvor abgeholt, als sie die Berliner Woche zum Gespräch empfängt. Eine Menge Arbeit wartet auf sie.
Sie muss die Briefe säubern, lesen und nach Datum sortieren. Briefe, die sie als archivwürdig bewertet, scannt sie ein, damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben. Es ist eine gewaltige Aufgabe, die Sabine Musial aber auch viel Spaß macht. Die Kinderärztin im Ruhestand leitet den 2012 gegründeten Verein Tagebuch- und Erinnerungsarchiv (TEA) Berlin seit mehr als einem Jahr. Die 35 Mitglieder widmen sich der Aufgabe, Tagebücher, Lebenserinnerungen, Fotos, Briefe und Dokumente der Alltagskultur aus allen Jahrhunderten zu sammeln. Dazu gehört auch, die Sammlung zu ordnen, das Archivmaterial zu erschließen und zu dokumentieren, digital aufzuarbeiten und zu katalogisieren, damit es für historisch Interessierte, Forschungszwecke, Ausstellungen und Lesungen zur Verfügung steht.
„Wir wollen Menschen aller Altersgruppen erreichen und sie mitnehmen auf eine Reise durch mehrere Epochen deutscher Geschichte“, erklärt Sabine Musial. In den vergangenen Monaten hätten sie viele neue Tagebücher, aber auch Erinnerungstexte mit dazugehörigen Dokumenten über die Zeit während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die Zeit des Aufbaus oder der deutschen Wiedervereinigung entgegennehmen können. Voraussetzung für die Gründung des Vereins war die Treptower Schreibwerkstatt unter der Leitung von Karin Manke-Hengsbach. In den 90er-Jahren begann sie, Zeitzeugen zu befragen und Erinnerungen zu sammeln. In der Schreibwerkstatt wurden Erinnerungstexte verfasst, die wichtige historische Ereignisse wie auch zeitgeschichtliche Momente festgehalten haben. Sabine Musial würde gern Menschen oder deren Angehörige finden, die sich damals als Autoren beteiligten.
Lange war das Archiv in der Wohnung und einem Keller untergebracht. Seit Oktober 2021 hat das TEA Räume im Bürgerhaus Altglienicke, Ortolfstraße 182, gemietet. Das Archiv kann dort besucht werden. Unter anderem 350 Tagebücher sind dort zu finden. „Ich war schon immer geschichtsinteressiert, wollte einst Archäologin werden“, erzählt Sabine Musial. 50 Stunden pro Woche ist die 62-Jährige mit ihrer Arbeit für den Verein beschäftigt. Von Ruhestand kann da kaum die Rede sein. Es kommt auch mal vor, dass sie mit dem Auto quer durch Deutschland fährt, um Dokumente abzuholen, die jemand abzugeben hat. Auf die Art habe sie beispielsweise einen Stapel Impfscheine aus dem Jahr 1873 erhalten. Das sei etwas ganz Besonderes. Anhand der Dokumente habe sie zugleich auch noch einiges über die damalige Zeit lernen können. Sie sei eine Sammlerin. Toll findet sie vor allem, wenn sich aus alten Dokumenten und Texten etwas über die Alltagskultur erfahren lässt. Schließlich seien diese von einfachen Leuten aufgeschrieben worden.
Aktuell ist Sabine Musial vor allem auf der Suche nach Angehörigen von Walter Moos (1909-2000), einem Berliner Schriftsteller, der viel über das Leben in Berlin in den 30er- und 40er-Jahren geschrieben hat. Sie weiß, dass Moos eine Tochter hatte, aber ob diese noch lebt, es vielleicht sogar Enkelkinder gibt, ist ihr nicht bekannt. Außerdem würde sie mit ihren Mitstreitern gern eine Chronik über die Treptower Schreibwerkstatt erstellen. Auch dafür sucht sie nach Aufzeichnungen von damals. Für 2023 plant sie eine Veranstaltung zum Volksaufstand der DDR am 17. Juni 1953 und zur Wende. Und dann soll in diesem Jahr auch eine eigene Online-Datenbank an den Start gehen. Für Sabine Musial bleibt genug zu tun.
Wer Interesse an einer Mitarbeit hat oder Zeitzeugnisse kostenlos abgeben würde, kann unter kontakt@tea-berlin.de oder Telefon 65 32 22 75 Kontakt aufnehmen. Infos unter www.tea-berlin.de.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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