Ringsiedlung Siemensstadt: Perle der modernen Baukunst
In einem Flockenwirbel von Pappelsamen hockt ein Grüppchen von Kaninchen im Grün und mümmelt in Missachtung des zweiten Grüppchens, eines menschlichen, die saftigen Spitzen. Jene Jahre, als Kaninchen hier Fressfeinde fürchten mussten, sind vorbei. Heutzutage, sagt man sich in der Ringsiedlung Siemensstadt, heutzutage schlafen Kaninchen und Füchse zusammen in einem Bau.
Auch Thomas Krüger hat davon gehört. Und seine Zuhörer wissen noch nicht, ob sie es für einen Scherz halten sollen nach so viel fachlicher Information. Soeben sind der Architekturkenner und seine Begleiter am Ziel angelangt. Dies ist das Ende eines Rundgangs zwischen Baukunstwerken, die alltäglich wurden. Die aber nicht nur wegen drolliger Tiere vor der Haustür ein waches Auge verdienen, wie der Architekt zu erklären versucht.
An kaum einem anderen Ort in Berlin versammeln sich so viele Facetten der Neuen Sachlichkeit. Hier die schneeweißen Quader des Walter Gropius, dort die erdfarbenen Entwürfe Paul Rudolf Hennings und da die organisch-rundlichen Fassaden des Hugo Häring. Zusammen bildet das Ensemble ein Weltkulturerbe; deutsche Wohngehöfte, gleichrangig mit den ägyptischen Pyramiden. Was der Berliner Senat auf dem Tempelhofer Feld verwirklichen wollte - hier ist es betoniert: rund 3700 Wohnungen fürs Volk. Dazwischen: Licht, Luft und ein alter Baumbestand von majestätischem Wuchs. Außer den Baumkronen bauschte nichts über den Dächern. Krüger deutet nach oben. Von Schornsteinen keine Spur - geheizt wurde in einem zentralen Kesselhaus, wo heute höchstens die Bewohner in einem Mieterbüro der GSW Dampf ablassen. Einzelne Kamine aber gab es nicht: "Hier galt das Ideal der rauchlosen Stadt."
Nach dem Krieg, als ein weiterer Siedlungsteil Gestalt annahm, qualmte es dann sehr wohl. Es rauchten immer mehr Auspuffrohre. "Anders als in den 20er-Jahren war das Auto in den 50ern schon essenziell", sagt Krüger. Man wollte den Wagen nahe wissen, in Garagen zwischen den ersten Wohnriegeln des Wiederaufbaus. Was sich der oberste Baumeister Hans Scharoun bei dieser Erweiterung der Alt-Siedlung dachte, das droht die Vegetation zwischen den Gehöften zu überwuchern. Gemeint war das 50er-Jahre-Städtchen für 650 Bewohner als Beispiel bester Ausnutzung des Sonnenlichts. 650 Menschen - "das ist das Maß, in dem sich noch Solidarität entwickeln kann", weiß der Fachmann. In den späteren Großsiedlungen sei das konzeptbedingt unmöglich.
Und Scharoun selbst? Der lebte in einem Atelier auf dem Dach. So war das damals gedacht: Unten hausen die Arbeiter. Darüber brütet der Denker. Von hier oben bestens sichtbar: die Backsteinfabriken von Siemens nebst weißem Panzerkreuzer-Haus. Architektur, angelehnt an den Schiffbau, verkündete den Fortschrittsglauben. Glattflächig, schnörkellos, akkurat. So hatte ein Haus zu sein, wenn Scharoun die Feder führte.
Nüchtern geht es hier noch immer zu. Etwas verwildert, vielerorts angegraut, aber friedlich. Der Füchse jagen also Kaninchen nicht mehr - zu beschwerlich, mutmaßt Krüger: "Die gehen lieber zum Imbiss und fressen Döner."
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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