Bucherscheinung aus dem Kiez
Leben in drei Gesellschaftssystemen: Die Autobiografie des Lichtenbergers Wolfgang Müller
Ein Leben in drei Gesellschaftssystemen, Entbehrungen und Erfolge, eine bemerkenswerte Karriere, privates Glück: Warum nicht all das aufschreiben, fragte sich Wolfgang Müller aus Friedrichsfelde. Er suchte sich einen Verlag, steckte viel Zeit und Energie ins Herzensprojekt Biografie. Diese trägt nun den Titel „Lebensbericht“. Prädikat: lesenswert!
Eine ehemalige Mitschülerin hat ihn nach der Lektüre angerufen und behauptet, bisweilen schreibe er Schachtelsätze wie ein Thomas Mann. Sie meinte das natürlich anerkennend. Wolfgang Müller erzählt‘s mit einem Schmunzeln. „Literarische Vorbilder habe ich schon“, räumt er dann ein. „Thomas Mann zählt dazu, auch Günter Grass, Johannes Bobrowski. Die Reisebeschreibungen von Theodor Fontane lese ich bis heute mit am liebsten.“
Ist sein „Lebensbericht“ also ein später Versuch, literarische Ehren zu erlangen? „Ach was“, protestiert der 80-Jährige. „Geschrieben habe ich das Buch in erster Linie für meine Familie und Freunde. Ich finde es wichtig, den Nachkommen etwas aus dem eigenen Leben zu hinterlassen. Aber natürlich freut es mich, wenn sich auch andere für meine Geschichte interessieren.“ Diese Geschichte erzählt der promovierte Chemiker auf 444 Seiten. Er schreibt von der Kindheit im Krieg, den Jugendjahren in einer brandenburgischen Kleinstadt, der Sehnsucht nach Berlin, wo er schließlich Fuß fasst, heiratet, eine Familie gründet.
Plötzlich hinter der Mauer
Eines Tages wird mitten in der Stadt eine Mauer gebaut. Da ist seine älteste Tochter ein halbes Jahr alt. Fast die komplette Verwandtschaft lebt in der Osthälfte des Landes, auch Wolfgang Müller bleibt mit Frau und Kind – mehr oder minder notgedrungen. Die Karriere beginnt. Zunächst holprig, führt der Berufsweg dank familiären Rückhalts und erwachtem Ehrgeiz rasch aufwärts und Müller schon bald auf Auslandsreisen. Sogar in den „Westen“, sogar ohne Parteibuch.
Die Laufbahn übersteht die Wende ohne Knick, am Ende stehen international anerkannte Erfolge in der Glasforschung und die Restaurierung wertvoller mittelalterlicher Kirchenfenster. Familienzuwachs, Freizeit und Freundschaften, Reiseerlebnisse, die großen gesellschaftlichen Umbrüche: Mit sicherem Händchen fügt der Autor Erzählenswertes aneinander und verzichtet auf allzu private Details. Erinnerungen und Anekdoten würzt Wolfgang Müller mit einer guten Prise Humor. Ernste, auch kritische Kommentare erspart er dem Leser aber nicht, wenn es um gesellschaftspolitische Themen geht. Aus der eigenen Weltanschauung macht er nie einen Hehl. So kommt der „Lebensbericht“ keineswegs als nüchterner Rapport daher.
Authentisch, persönlich, erlebt
Das Buch vermittelt Zeitgeschichte in der vielleicht schönsten Form: authentisch, persönlich, erlebt. Warum also dieser schlichte Titel? „Der lag doch nahe“, sagt der gebürtige Berliner, der seit über 50 Jahren in Friedrichsfelde lebt. „In meinem Beruf habe ich hunderte Berichte verfasst – Forschungsberichte, Arbeitsberichte, Reiseberichte. Nun habe ich eben auch einen Lebensbericht geschrieben.“
Ab und an ließen sich wissenschaftlich-technische Passagen darin nicht vermeiden. Zum Beispiel im Kapitel über die Rettung eines einzigartigen Kunstschatzes: den „Hofstaat des Großmoguls“ aus dem 18. Jahrhundert, der im Grünen Gewölbe in Dresden zu bewundern ist. Anfang der 1990er-Jahre hat Wolfgang Müller mit seinem Laborteam das Figuren-Ensemble aus der Sammlung von August dem Starken vor dem Verfall bewahrt. Die kostbaren Miniaturen aus Edelsteinen, Gold und Emaille – letzteres ist quasi eine dünne Glasschicht auf Metall – drohten schlichtweg zu zerbröseln. „Wir waren die einzigen, die die Erfahrung hatten, sie zu retten“, erklärt der Experte.
Trinkgläser, die nicht zerspringen
Ein wenig Stolz schwingt in der Stimme mit. Auch auf seine Forschung in der chemischen Verfestigung von Wirtschaftsglas blickt er zufrieden zurück. Zu DDR-Zeiten hat er Trinkgläser mitentwickelt, die man auf den Boden fallen lassen kann, ohne dass sie zerspringen. Eine heutzutage gänzlich unerwünschte Beständigkeit, wie er weiß. „Gläser sollen ja kaputt gehen, damit man wieder neue herstellen und verkaufen kann.“
Nach seinem Lieblingskapitel im Buch befragt, muss der 80-Jährige einen Augenblick nachdenken. „Die Tagebuchaufzeichnungen meiner ersten England-Reise 1983. Für mich ist dieser Aufenthalt bis heute ein ganz besonderes Erlebnis, weil es alles andere als selbstverständlich war, dass jemand ohne SED-Zugehörigkeit ins kapitalistische Ausland fahren durfte. Ich musste sehr um dieses Privileg kämpfen.“
Alte Weggefährten
Ehrlichkeit sei Prämisse seines „Lebensberichts“, schreibt der Autor auf einer der ersten Seiten. Hat er das durchgehalten? Soweit es um ihn ging, glaube er das schon, sagt Wolfgang Müller. Allerdings habe er aus juristischen Gründen alle Namen von noch lebenden Personen geändert. Einige Ex-Kollegen und Schulfreunde hätten aber schon angeklingelt, weil sie sich anhand der Schilderungen trotzdem erkannten. Nicht alle waren komplett begeistert, gibt er zu und schmunzelt erneut. „Dabei habe ich manches weggelassen, um Ärger zu vermeiden. Alles in allem war bislang noch niemand total beleidigt.“
Das Buch „Lebensbericht“ von Wolfgang Müller ist im Verlag edition winterwork erschienen und dort unter https://bwurl.de/145v für 9,90 Euro bestellbar. ISBN: 978-3-96014-104-4.
Autor:Berit Müller aus Lichtenberg |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.