Stolpern über die Erinnerung: Im Bezirk wurden neue Gedenkquader verlegt
Friedrichshain-Kreuzberg.776 Stolpersteine gab es bisher in Friedrichshain-Kreuzberg. Am 12. November kamen mehr als 20 neue hinzu.
Die Stolpersteine erinnern an Menschen, die während der Nazizeit verfolgt und meist ermordet wurden. Gewürdigt werden auf diese Weise alle Opfergruppen, jüdische Mitbürger ebenso wie Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Zwangsarbeiter, Deserteure.
Die zehn Mal zehn Zentimeter großen Gedenkzeichen befinden sich meist vor der letzten Adresse im Straßenland. Oft bedeuten sie eine Art Grabsteinersatz. Denn wer in einem Vernichtungslager umgekommen ist, hat keinen Platz auf einem Friedhof. Verzeichnet ist jeweils der Name, das Geburtsjahr und das Todesdatum. Ist letzteres unbekannt, steht der Tag der Deportation.
Das Verlegen eines Stolpersteins kann von jedem beantragt werden. Die Motivation dafür ist ganz unterschiedlich, wie nicht nur die vielen Termine am 12. November zeigten. Es können sich Nachbarn zusammenfinden, die sich mit dem Schicksal einstiger Bewohner ihres Hauses beschäftigt haben, Vereine, Parteien, Opferverbände oder Initiativen. Und nicht selten Familienangehörige und Nachkommen aus aller Welt.
Ori Wolff (80) lebt in der Nähe von Tel Aviv. Zusammen mit seinen drei Kindern und einem einjährigen Enkel kam er nach Berlin. Ihre Stolpersteine erinnern an Emma und Friederike Wolff. Die beiden Frauen, 1857 und 1863 geboren, waren Schwestern seines Großvaters. Sie betrieben in der damaligen Tempelherrenstraße 12, heute Carl-Herz-Ufer 23, eine Schneiderei. 1943 kamen sie nach Theresienstadt. Das letzte Lebenszeichen von ihnen habe es ein Jahr zuvor durch eine vom Roten Kreuz vermittelte Postkarte gegeben, erzählt Ori Wolff. Sein Vater Wilhelm sei dem Holocaust entkommen, weil er schon 1925 in das damalige Palästina ausgewandert ist. Bis zu seinem Tod habe er sich geweigert, noch einmal nach Deutschland zu reisen, sagt sein Sohn. "Ich weiß nicht, was er dazu sagen würde, dass ich heute hier stehe."
Aus Haifa kam Professor Michael Gronau (76) mit seiner Familie. Ihr Stolperstein erinnert an der Fontanepromenade 10 an Ilse Charmatz, die Schwester seiner Mutter Lilli. Ilse und Lilli lebten dort mit ihrer Mutter, bis beide heirateten. Ilse emigrierte mit ihrem Mann Salomon nach 1933 in die Niederlande, Lilli nach Palästina. 1939 kam es dort zu einem Treffen. Michael Gronau zeigt Fotos von diesem Besuch. Lilli Gronau ist damals schwanger. "Das Kind in ihrem Bauch bin ich." Als Holland von deutschen Truppen besetzt wurde, lebten Ilse und Salomon Charmatz in einem Versteck, wurden dort verraten und nach Auschwitz deportiert. Für Salomon fehle bisher ein Stolperstein, sagt Michael Gronau. Auch den soll es noch geben.
Ähnlich klingt das bei Margarete Nudel. Sie kommt aus Stockholm, steht mit ihrem Mann und den drei Söhnen vor dem heutigen Haus Barnimstraße 18, früher Barmimstraße 31. Dort lebte die Familie Loewinski, Vater Georg, Mutter Margarete die Söhne Siegfried, Günter und Heinz. Nach dem Sprachgebrauch der Nazis handelte es sich um eine "Mischlingsfamilie", denn Margarete war nicht jüdisch. Da sie eine Scheidung verweigerte, konnte sie einen Großteil der Familie vor dem Transport in die Vernichtungslager schützen. "Sie gehörte zu den Frauen, die im Februar 1943 in der Rosenstraße aufmarschierten, um ihre eingesperrten Angehörigen wieder freizubekommen", weiß die Enkelin. Georg Loewinski, Günter, der Vater von Margarete Nudel, und Heinz überlebten so den Holocaust. Anders Siegfried, der im Krieg eine jüdische Frau geheiratet hatte. Das Ehepaar und ihr Kleinkind wurden in Auschwitz ermordet. "Meinen Vornamen trage ich wegen meiner Großmutter", erzählt Margarete Nudel.
Es sind solche Geschichten, die den Namen auf den Stolpersteinen ein Leben geben. Und selbst wer nur an ihnen vorbeiläuft, stolpert über die Erinnerung. tf
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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