Blick zurück und nach vorn: Das RAW-Gelände wurde 150 Jahre alt
Friedrichshain. Gefeiert wurde am 30. September in Abendgarderobe und mit Walzerklängen. Auf den ersten Blick vielleicht nicht das Ambiente, das für den 150. Geburtstag des RAW-Geländes zu erwarten gewesen wäre.
RAW steht für Reichsbahnausbesserungswerk und bezeichnet die rund 70 000 Quadratmeter große Fläche zwischen Warschauer- und Modersohnstraße sowie der Revaler Straße und den Stadtbahngleisen. Letztere und der Name unterstreichen die frühere Funktion des Areals. Heute ist das Quartier vor allem als Ausgehmeile bekannt. Einschließlich mancher Probleme wie Drogenhandel oder Kriminalität. Und es geht um die Zukunft des Riesengrundstücks.
Begleiter des Eisenbahnzeitalters
Am 1. Oktober 1867 begann der Betrieb der "Königlichen Eisenbahnhauptwerkstatt Berlin II". Auf einem Gelände, das sich damals noch am Rand der Stadt Berlin befand.
Allerdings lag in der Nähe der damalige Ostbahnhof, nicht zu verwechseln mit dem heutigen Bahnhof dieses Namens. Der alte Ostbahnhof befand sich am Küstriner-, jetzt Franz-Mehring-Platz. Von dort gab es Verbindungen Richtung Ostpreußen und weiter zur damaligen russischen Grenze.
Die Loks und Waggons, die auf dieser Strecke unterwegs waren, wurden in der Eisenbahnhauptwerkstatt repariert und gewartet. Später kamen weitere Aufträge hinzu, etwa ab 1882 die Züge der in dem Jahr eröffneten Berliner Stadtbahn.
Parallel zur immer größeren Bedeutung der Eisenbahn wuchs die Beschäftigtenzahl. Bereits einige Jahre nach der Eröffnung des Werks arbeiteten dort rund 600 Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es 1200. Parallel dazu wurde das Werksgelände mehrfach erweitert.
Die Bezeichnung Reichsbahnausbesserungswerk und die Abkürzung RAW erhielt die Anlage 1920, denn erst nach dem Ersten Weltkrieg war es in Deutschland zur Gründung der Deutschen Reichsbahn gekommen.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden weite Teile des Geländes zerstört und zu DDR-Zeiten wieder aufgebaut. Es erhielt anlässlich seines 100-jährigen Bestehens im Jahr 1967 den Beinamen "Franz Stenzer" – in Erinnerung an den kommunistischen Reichstagsabgeordneten und Widerstandskämpfer Franz Stenzer, der 1933 im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde.
Nach der Wiedervereinigung wurde ab 1991 der größte Teil des bisherigen Reichsbahnausbesserungswerks nach und nach stillgelegt. Nur am südlichen Rand erinnern die Werkstätten von Talgo Deutschland bis heute an die ursprüngliche Funktion. Das Instandhaltungsunternehmen für Reisezüge aber auch E- und Dieselloks siedelte sich dort 1994 an.
Zwischen Agonie und Aufbruch
Die Idee eines neuen Wohnquartiers auf dem RAW-Gelände verfolgte bereits die Bahn-Immobiliengesellschaft Vivico, die nach der Wende Eigentümer wurde. Dafür fand sich aber erst einmal kein Investor. Vielmehr wurden einige Gebäude seit Ende der 1990er-Jahre an Zwischennutzer vergeben, die sich zunächst vor allem um den Verein RAW-Tempel gruppierten. Außerdem gelang es, Mittel für die Sanierung von Bestandsgebäuden entlang der Revaler Straße zu akquirieren. Das schuf ebenso Fakten, wie weitere Akteure, die sich auf dem Areal niederließen. Werkstätten und Ateliers sowie die Skatehalle. Der Erhalt dieser Einrichtungen wurde jetzt auch zu einer Forderung der Bezirkspolitik.
2007 verkaufte die Vivico das Areal an eine isländisch-deutsche Investorengruppe. Die wollte dort den Wohnungsbau verwirklichen, stieß aber auf Widerstand. Es folgten jahrelange Auseinandersetzungen mit nicht immer klaren und sich auch veränderten Fronten. Innerhalb der Nutzer gab es ebenso Stress, wie schließlich zwischen den Eigentümern.
Aber gerade weil es mit den Bauplänen nicht weiter ging, gab es vor allem seit Beginn dieses Jahrzehnts weitere Ansiedlungen von Zwischen- und mittlerweile langfristigen Nutzern. Sie kamen meist aus der Gastronomie-, Club- oder Eventszene und sorgten vor allem für den heutigen Ruf des RAW-Geländes als Partyquartier.
Der isländische Zweig verkaufte den 52 000 Quadratmeter großen westlichen Bereich 2015 an die Göttinger Kurth-Gruppe. Die restlichen 18 000 Quadratmeter gingen weitgehend an die International Campus AG. Dazwischen befindet sich eine kleine Fläche, die einem weiteren Eigentümer gehört.
Unterschiedliche Interessen
Eigentümer, Nutzer, die Politik. Sie alle haben bestimmte Vorstellungen, was mit dem RAW-Gelände in Zukunft passieren soll. Wobei die Interessen auch innerhalb dieser Gruppen teilweise konträr verlaufen.
Die Kurth-Gruppe hat seit ihrem Kauf immer wieder ein angestrebtes Einvernehmen mit den Akteuren auf ihrer Fläche betont. Gleichzeitig verfolgt auch sie bestimmte Pläne.
Der Westteil des Geländes soll zu einem Gewerbequartier weiterentwickelt werden, mit Angeboten und Dienstleistungen, die einen Besuch auch tagsüber attraktiv machen. Neubauten sind ebenfalls vorgesehen, etwa entlang der Warschauer Straße. Schon die Dimension dieser Ideen ist nicht unumstritten.
Eine noch größere Kontroverse dreht sich aber um die Frage, was als sogenanntes soziokulturelles Angebot zu verstehen und besonders zu bewerten ist. Gemeint sind damit Personen oder Institutionen, die im nicht – oder nur niederschwelligen kommerziellen Bereich unterwegs sind, etwa im Umfeld des inzwischen insolventen RAW-Tempels. Ihnen soll auch in Zukunft eine relativ geringe Miete abverlangt werden.
Aber gilt das auch für Einrichtungen wie die Skatehalle und den Kletterturm, einschließlich angeschlossenem Biergarten sowie Cassiopeia-Club? Gerade an diesem Beispiel entzündete sich der Streit. Während die Kurth-Gruppe die Bezeichnung soziokulturell für skaten und klettern akzeptiert, sieht sie das bei der Außengastronomie und dem Cassiopeia nicht. Bei beiden würde es sich um profitable Geschäftszweige handeln. Mit deren Gewinnen müssten aber die Defizite der anderen Angebote ausgeglichen werden, argumentiert Tobias Freitag, Chef des Betreibers "Five-O".
Hinter die Forderung nach einem soziokulturellen Bestand haben sich anlässlich des RAW-Geburtstags mehr als 40 Akteure aus Politik und Kultur, einschließlich der direkt Betroffenen, gestellt. Zu den Unterstützern gehören neben allen Mitgliedern des Bezirkamtes auch die ehemaligen Bürgermeister Franz Schulz (Bündnis 90/Grüne) und Cornelia Reinauer (Linke), aber auch Björn Böhning, Chef der Berliner Senatskanzlei, und der Regisseur Andreas Veiel. Sie greifen eine Forderung der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg auf, die verlangt, die Nutzer in den Gebäuden entlang der Revaler Straße ebenso wie auf dem Five O-Areal unter dem Dach einer Genossenschaft zu verwalten. "Soziokulturelles L" wird dieser Teilbereich genannt, weil er in seiner Anordnung diesem Buchstaben ähnelt.
Weniger Unstimmigkeiten mit der Kurth-Gruppe gibt es dagegen beim Thema Wohnungsbau. Sie hat daran zumindest vordergründig kein Interesse. Anders als die International Campus AG, Besitzerin im östlichen Teil, die weiter solche Pläne verfolgt. Vom Bezirk wird das bisher abgelehnt. Begründung: Ein Wohnquartier auf dem RAW-Gelände sorge für Konflikte mit den aktuellen und in vielen Fällen auch künftigen Nutzern.
Alle diese Probleme sollen Thema in einem zweigliedrigen Dialogverfahren sein. Der Beginn ist noch für dieses Jahr geplant. Vorgesehen sind Fach- und Werkstattgespräche. Ebenso soll ein Entwicklungskonzept zwischen Eigentümern und Nutzern erarbeitet werden. Ob am Ende wirklich Ergebnisse stehen, mit denen alle leben können, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall wird das einige Zeit dauern.
Gefährliches Pflaster
Den Ruf als "gefährliches Pflaster" bekam das RAW-Areal in den vergangenen Jahren. Das Gelände wurde zu einem kriminalitätsbelasteten Ort. Drogenhandel und Taschendiebstahl stehen dafür ebenso, wie Gewaltdelikte. Schlagzeilenträchtiger Höhepunkt war der Messerangriff auf den Begleiter der Sängerin Jennifer Weist (Jennifer Rostock) im Sommer 2015. Die Reaktion danach: mehr Wachschutz, bessere Beleuchtung, bauliche Veränderungen. Auch die Polizei zeigt, vor allem auf der benachbarten Warschauer Brücke, mehr Präsenz. Das hat zu einem Rückgang der Taten geführt, ohne dass das Problem gelöst wäre. Das RAW-Gelände und seine Umgebung gelten weiter als ein Verbrechens-Hotspot in Berlin. Wobei natürlich zu berücksichtigen ist: Wo zigtausende Feierwütige vor allem an den Wochenenden zusammen kommen, sind auch die nicht weit, die daraus illegal Kapital schlagen wollen. tf
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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