Spezielle Geschichtsstunde
Die Bezirksverordnetenversammlung, der 17. Juni und das "Neue Deutschland"

Gedenken am Rosengarten, 17. Juni 2020. | Foto: Thomas Frey
  • Gedenken am Rosengarten, 17. Juni 2020.
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Zumindest an Jahrestagen fällt das Entkommen aus der Geschichte schwer. Erst recht, wenn so ein Tag, wenn auch wahrscheinlich ungewollt, noch aufgeladen wird.

Am 17. Juni 1953 erhoben sich zunächst die Arbeiter, dann breite Volksmassen in der DDR gegen das SED-Regime. Der Aufstand konnte nur mit Hilfe sowjetischer Truppen niedergeschlagen werden. Mindestens 34 Menschen starben, mehr als 10 000 wurden verhaftet.

In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni bis 1990 ein Feiertag. Heute verläuft das Gedenken gedämpfter. Aber es findet weiter statt. Alljährlich zum Beispiel am Mahnmal im Rosengarten an der Karl-Marx-Allee. Der Ort ist schon deshalb wichtig, weil die Erhebung vor nunmehr 67 Jahren dort, an der ehemaligen Stalinallee sowie an der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain ihren Anfang nahm.

Einladende zu diesem stillen Erinnern sind regelmäßig die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und das Bezirksamt. In diesem Jahr war der Weg von dieser kurzen Feier zum nächsten Termin nicht weit. Eine Stunde später begann die Sitzung des Bezirksparlaments nur wenige hundert Meter entfernt im Gebäude des "Neuen Deutschlands" am Franz-Mehring-Platz.

Eine solche Konstellation an diesem Tag an diesem Ort wäre "geschichtsvergessen", wetterte der FDP-Bezirksverordnete Michael Heihsel bereits im Vorfeld. Das zielte darauf ab, dass das "Neue Deutschland" als zentrales Zeitungsorgan der SED nicht nur in den Tagen nach dem 17. Juni 1953 eine unrühmliche Rolle gespielt hat.

Pragmatische Entscheidung für Tagungsort

Ausschlaggebend für den Tagungsort waren vor allem pragmatische Gründe. Die beiden vergangenen BVV-Sitzungen fanden Corona geschuldet in der Flatow-Sporthalle vor dem Schlesischen Tor statt. Inzwischen werden die Sportgebäude wieder für ihren eigentlichen Zweck gebraucht. Weil Zusammenkünfte dieser Größenordnung im Rathaus Kreuzberg immer noch als problematisch gelten, musste ein anderer Standort her. Er fand sich, nach Entscheidung des Ältestenrats, schon mangels großer Alternativen, im "Neuen Deutschland"-Haus. Übrigens nicht zum ersten Mal. Auch die Verleihung der Bezirksmedaille hat dort bereits stattgefunden. Außerdem schienen die Kosten für die temporäre Nutzung sehr moderat gewesen zu sein. Sogar Freigetränke gab es, sonst nicht üblich in der BVV.

Michael Heihsel bekam für sein Agieren gegen diesen Tagungsort selbst Gegenwind aus den eigenen Reihen. Stefan Förster, Mitglied der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, widersprach dem Parteikollegen mit dem Argument, ein Haus könne schließlich nichts dafür, was in seinem Räumen einmal passiert sei. Einwände, die Heihsel als "unprofessionell" zurückwies. Weshalb wiederum der Linke-Bezirksverordnete Reza Amiri den liberalen Förster gegen seinen liberalen Widersacher aus dem Bezirk verteidigte. Auch mit ersterem verbinde ihn zwar politisch kaum etwas. Aber der Mann gelte im Abgeordnetenhaus fraktionsübergreifend als geschätzter Kollege.

Was das "Neue Deutschland" betraf, vergaß der Linke nicht anzumerken, dass sich die Zeitung sehr intensiv mit ihrer Vergangenheit, gerade am 17. Juni 1953, beschäftigt habe.

Diskussion um Polizistinnen und Soldatinnen

Das alles passierte bereits während der Debatte in der BVV zu diesem Thema. Anlass dafür war eine von FDP und CDU eingebrachte Resolution. Sie erinnerte noch einmal an die Ereignisse vor jetzt 67 Jahren, aber auch an andere Opfer des DDR-Systems – an politische Häftlinge und im Gefängnis umgekommene Menschen, an Opfer von Hinrichtungen, Mord oder Mordversuchen der Stasi, die Mauertoten. Vor diesem Hintergrund wurde erneut die Entscheidung für diesen Sitzungsort kritisiert. Gerade diesen Passus wollten Grüne, Linke und SPD gestrichen sehen. Denn die BVV könne sich ja schlecht selbst für eine Entscheidung kritisieren, auch wenn es erst einmal nur der Ältestenrat war.

Eine klare Mehrheit setzte das durch. Wie am Ende auch die modifizierte Resolution weitgehende Zustimmung fand. Noch mit einer weiteren formalen Änderung, auf die vor allem die Grünen bestanden. Nämlich einer durchgehend beide Geschlechter berücksichtigende Bezeichnung aller im Text aufgeführten Personengruppen: Arbeiterinnen und Arbeiter, Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten.

Bei den Werktätigen hatte der CDU-Fraktionsvorsitzende Timur Husein damit kein Problem. Schon weil es richtig ist, dass sich nicht nur bei ihnen Frauen und Männer am Aufstand beteiligt haben. Bei den bewaffneten Kräften, die ihn niederschlugen, hätte das aber anders ausgesehen. Nach seinem Wissen waren die dafür eingesetzten Volkspolizisten und erst recht die Soldaten ausschließlich Männer. Hier auch die weibliche Form zu verwenden, wäre deshalb schon historisch falsch und nähme Frauen ohne eigenes Zutun in Mithaftung. Die Argumente änderten aber nichts daran, dass das durchgehende Gendern mehrheitsfähig war.

Etwas anderes und Interessanteres spielte dagegen in der Debatte und der Abstimmung keine Rolle. "Wir gedenken den Opfern des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 sowie allen Opfern der SED-Diktatur im Unrechtsstaat DDR..." heißt es ebenfalls in der Resolution. Der Satz ging ohne Beanstandung durch. Das ist zumindest bemerkenswert, weil sich Teile der Linken mit dem Begriff Unrechtsstaat für die DDR noch immer schwer tun.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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