Wo alles begann
Bahnhofsmission feierte 125-jähriges Bestehen
Die Liste der Redner war lang: Familienministerin Franziska Giffey und der Regierende Bürgermeister Michael Müller (beide SPD), Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann (CDU), die Bischöfe Heinrich Bedford-Strohm (evangelisch) und Heiner Koch (katholisch), Bahnchef Richard Lutz. Sie und noch weitaus mehr Gäste kamen am 27. September in ein Festzelt am Ostbahnhof, um den 125. Geburtstag der Bahnhofsmission zu begehen.
Der Ort war nicht zufällig gewählt. Denn dort, am damaligen Schlesischen Bahnhof, wurde die Bahnhofsmission 1894 zum ersten Mal tätig.
Wie alles begann: Der Schlesische Bahnhof war damals eine der wichtigsten Ankunftsstationen in Berlin, vor allem für viele Menschen aus den Ostprovinzen oder Osteuropa, die in der boomenden Reichshauptstadt Arbeit, überhaupt ein neues Leben suchten. Die Gegend um den Bahnhof genoss nicht den besten Ruf. Sie war gekennzeichnet von Armut, Prostitution und Kriminalität. Wer hier anlandete, konnte leicht auf Abwege geraten.
Um das vor allem bei jungen Frauen so gut es ging zu verhindern, war der Antrieb des Patsors Johannes Burckhardt bei der Gründung der Bahnhofsmission. Helferinnen standen zum Empfang an den Bahnsteigen. Zunächst passierte das noch unregelmäßig, vor allem zu Beginn eines neuen Quartals, wenn neue Arbeitsverhältnisse begannen.
Schnell kamen weitere Aufgaben hinzu. Das Elend rund um den Bahnhof war auch ohne die neu Ankommenden schon groß genug. Und das galt nicht nur für diesen Ort. Deshalb folgten schnell weitere Ableger in anderen Städten.
Frühe Ökumene: Die Bahnhofsmission war zunächst eine evangelische Gründung. Aber auch die katholische Kirche engagierte sich kurz darauf auf ähnliche Weise. Beide kamen aber schon nach einigen Jahren zu der Erkenntnis, dass im Bereich der Caritas und Nächstenliebe eine konfessionelle Konkurrenz eher kontraproduktiv ist. Deshalb kam es schon 1910 zur bis heute andauernden engen Zusammenarbeit bei der Bahnhofsmission. Und nicht nur das: Auch der jüdische Wohlfahrtsverband schloss sich an. Hilfe über alle Religionsgrenzen hinweg, die jedem Bedürftigen jenseits von Glauben oder Herkunft gewährt wird.
Aus dem Bahnhof vertrieben: "Einfach da", heißt ein heutiges Motto der Bahnhofsmission, das auf ihre ständige Präsenz verweist. Das galt aber nicht durchgehend. "Zwei Mal in ihrer Geschichte musste die Bahnhofsmission den Bahnhof verlassen", erinnerte der Sozialwissenschaftler Professor Bruno W. Nikles in seinem Festvortrag.
Zunächst während der Nazizeit, wo ihr niemanden ausschließendes Menschenbild nicht in die Rassenideologie der Machthaber passte. Nachdem die NSDAP zunächst einen eigenen Bahnhofsdienst für "würdige Volksgenossen" aufgebaut hatte, sollten ab Ende 1938 keine "nicht kontrollierbaren Beobachter" mehr an einem Bahnhof tätig sein. Damit war eine weitere Arbeit unmöglich. Ab Frühjahr 1939 schlossen die Bahnhofsmissionen.
Den Machthabern in der DDR war ihr Wirken ebenfalls suspekt. 1956 wurde es wegen des Vorwurfs der Spionage untersagt. Das Rote Kreuz der DDR baute danach ein Netz staatlich finanzierter Bahnhofsdienste auf.
Mehr als 30 Jahre verschwand die Bahnhofsmission im Ostteil Deutschlands. Mit einer Ausnahme: der Standort an ihrem Gründungsort am inzwischen umbenannten Ostbahnhof. Ihn sicherte "indirekt", so Professor Nikles, der zumindest auf dem Papier bis zum Ende der deutschen Teilung gültige Vier-Mächte-Status für ganz Berlin.
Immer am Zug: Das Wort Bahnhofsmission steht weniger für missionieren. Auch wenn niemand etwas dagegen hat, wenn der religiöse Hintergrund deutlich wird. Aber mehr noch geht es um die Mission im Sinne von Aufgabe und Antrieb. Dafür stehen heute 400 haupt- und mehr als 2000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an 104 Standorten in Deutschland. Ihre Arbeit umfasst Unterstützung in so ziemlich allen Lebenslagen, mit denen Menschen rund um den Zugverkehr und seinen Stationen konfrontiert werden können.
Am bekanntesten und häufig sichtbarsten ist dabei der Einsatz für Obdach- oder Wohnungslose. Von regelmäßiger Essensausgabe über Hygiene bis zur Notübernachtung. Aber auch wenn jemand seine Geldbörse verloren hat oder sie ihm gestohlen wurde, hilft die Bahnhofsmission. Sie bringt oft ältere oder gehandicapte Menschen zum richtigen Gleis, holt andere dort nach der Ankunft ab. Seit 2011 werden Kinder im Rahmen des Projekts "Kids on Tour" auf Bahnreisen begleitet. Ein Service, auf den nicht zuletzt getrennt lebende Elternteile häufig zurückgreifen.
Ihre Mitarbeiter kümmerten sich nicht erst seit Herbst 2015 um Flüchtlinge, sondern wie schon in den Jahrzehnten zuvor um Vertriebene, Gastarbeiter, Spätaussiedler, Zugewanderte. Und sie sind oft als eine der ersten bei einem Unglück im Bahnhof vor Ort. So zuletzt im August beim Mordanschlag in Frankfurt am Main, bei dem ein kleines Kind starb.
Weiterhin wichtig: Manche dieser Beispiele zeigen auch, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse inzwischen geändert haben, neue Herausforderungen hinzu gekommen, manche Gefahren traurige Realität geworden sind. Auch wenn sich in den vergangenen 125 Jahren vieles verändert habe, der Einsatz der Bahnhofsmission wäre heute mindestens genauso unverzichtbar, wie zu ihren Anfängen, so der Tenor in fast allen Ansprachen.
Ebenso wie damals befinde sich Deutschland heute im Umbruch, wurde immer wieder herausgestellt. Ende des 19. Jahrhunderts sei die Bahnhofsmission nicht zuletzt mit den Schattenseiten der industriellen Revolution konfrontiert worden. Auch im heutigen Zeitalter der digitalen Revolution gäbe des nicht nur Gewinner.
Ende der "wilden Ehe". Möglich war und ist die Arbeit der Bahnhofsmission vor allem in Kooperation mit der Deutschen Bahn. Einundeinviertel Jahrhundert hat das zwar über weite Strecken und abseits politischer Restriktionen ganz gut funktioniert. Ein Vertrag darüber existierte aber bisher nicht. Der wurde erst anlässlich des Geburtstags unterzeichnet. Eingedenk der langen gemeinsamen Geschichte zwar ein eher symbolischer Akt, aber trotzdem ein wichtiger Einschnitt. Die Bahn und die Bahnhofsmission hätten 125 Jahre in einer Partnerschaft ohne Trauschein gelebt, wurde die Vereinbarung unter anderem kommentiert. Nach so einer langen Zeit der Prüfung könne jetzt auch eine Ehe eingegangen werden.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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