"Scham wirkt lange nach"
„MUT – Traumahilfe für Männer*“ hilft Männern, die sexualisierte Gewalt erfahren haben

Seit elf Jahren hilft Markus Wickert Männern, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. | Foto: Ulrike Kiefert
  • Seit elf Jahren hilft Markus Wickert Männern, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
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Es sind vor allem Frauen, die sexuelle Gewalt erleben müssen. Doch auch Männer sind betroffen. Eine Beratungsstelle in der Rigaer Straße hilft ihnen weiter, macht Mut – und ist berlinweit die einzige mit diesem speziellen Angebot.

Markus Wickert erinnert sich noch gut an diesen Fall. Weil er exemplarisch für viele seiner Fälle steht, und weil es dem Klienten heute wieder „relativ gut geht“. Es ist schon eine Weile her, als der über 60-Jährige in die Beratungsstelle kommt. Er hat ein Alkoholproblem und Dauerstress in der Beziehung. Markus Wickert hört ihm zu, stellt behutsam Fragen. Doch es dauert lange, bis der Mann sich öffnet und zum ersten Mal in seinem Leben erzählt, was ihm passiert ist. Der Onkel hat ihn missbraucht, vor mehr als 50 Jahren. „Für ihn war es wie ein tiefes Durchatmen, als er mir das offenbarte“, sagt Wickert. Befreit, weil er sich dem Trauma endlich gestellt hatte und bereit war, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Beratung und Hilfe zu suchen,
fällt Männern schwer

Genau das ist es, was Markus Wickert und sein Kollege in der Fachberatungsstelle „MUT – Traumahilfe für Männer*“ tun: Die Sozialpädagogen mit traumapädagogischer Zusatzausbildung begleiten und beraten junge und erwachsene Männer, die sexualisierte Gewalt, also sexuelle Übergriffe, Missbrauch und Vergewaltigung, erleben oder erlebt haben. Das Sternchen hinter „Männer“ im Namen der Beratungsstelle ist bewusst gewählt. „Es gibt unterschiedliche Formen der Männlichkeit“, sagt Wickert. „Mit dem Stern möchten wir das sichtbar machen.“ Denn eine Belastung oder ein Trauma kann sich bei jedem Mann – wie auch jeder Frau – unterschiedlich bemerkbar machen. Die einen fühlen Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Traurigkeit. Andere reagieren mit Panik, Wut und Hass, sehr oft mit Scham. Auch wiederkehrende Albträume, Vertrauensverlust, soziale Rückzug, Unsicherheit gegenüber der eigenen Sexualität, Selbstvorwürfe oder Autoaggression sind häufige Folgen sexueller Gewalt. Darüber zu sprechen, Beratung und Hilfe zu suchen, fällt Männern oft schwer. Seelischer Druck, Schlaflosigkeit, Albträume, Ängste, Panikattacken und Depressionen als Folge von Gewalterlebnissen? Darüber spricht man(n) nicht. Weil es nicht männlich im klassischen Sinne ist. Ein Mann steckt ein oder teilt aus, er ist kein Opfer. Markus Wickert kennt diese Stereotypen und versucht sie zu durchbrechen. Indem er seinen Gegenüber ernst nimmt und das, was ihm passiert ist, nicht bewertet. Das baut Vertrauen auf.

Über 100 Männer aus ganz Berlin kommen jährlich in die Beratungsstelle in der Rigaer Straße 4. Vom Wohnungslosen bis zum Uni-Professor. Die meisten sind zwischen 18 und 35 Jahre alt, doch der Anteil Älterer steigt, sagt Wickert. Beraten wird anonym. „Wir kennen nur die Vornamen.“ Ab wann und in welcher Form Mann nach einem grenzverletzenden Erlebnis professionelle Hilfe braucht, dafür gibt es keine Regeln. „Das kann jeder nur für sich entscheiden.“ Oft gibt die Partnerin den Anstoß, sich Hilfe zu suchen. Ein Zeitungsartikel oder einfach nur ein Songtext. „Natürlich hat auch die #MeToo-Debatte bewirkt, dass über dieses Thema jetzt öfter gesprochen wird“, sagt Wickert. Und dass Männer mutiger sind, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten.

Es geht vor allem ums Zuhören

Rechtlich beraten Markus Wickert und sein Kollege aber nicht. In den mehr als 1000 Gesprächen pro Jahr geht es vor allem ums Zuhören. „Wir sortieren das Erzählte und überlegen dann gemeinsam, was der Mann braucht“, erklärt Markus Wickert. Manche wollen eine Therapie, andere haben sie bereits hinter sich, kommen aber nicht zur Ruhe. In der Traumahilfe lernen die Männer, mit den Konsequenzen der Gewalterfahrung besser umzugehen, sich selbst zu beruhigen und zu trösten. „Wir helfen ihnen, den Stress besser zu bewältigen und zusätzlichen zu vermeiden, wir stärken ihr Selbstbewusstein und damit auch ihre Selbstfürsorge.“ Der Partner, Familienangehörige oder ein Freund können auf Wunsch bei den Gesprächen dabei sein.

Die Täter aus der Kindheit oder Jugend sind laut Wickert meist männlich, der Vater oder der Onkel. Aber auch Frauen, die Mutter oder die Tante. Dass viele Männer erst Jahrzehnte später von ihrem Trauma erzählen, hat mit dem Schamgefühl zu tun. „Denn Scham wirkt lange nach“, weiß Wickert. Ist der Täter oder die Täterin gestorben, fällt es leichter, sich damit auseinander zu setzen. Manchmal hilft es auch, wenn sich ein anderes Familienmitglied offenbart. Jüngere Männer, die Wickert in der Beratung hat, erleben sexuelle Übergriffe häufig auf Partys. Stichwort Partydroge. Auch Geflüchtete kommen zu ihm, sogenannte Sex-Worker eher selten. „Sie betreut der Verein Subway.“

Einzigartiges Angebot in Berlin

Mit ihrem speziellen Angebot ist die „MUT – Traumahilfe für Männer*“ einzigartig in Berlin. Gegründet hat sie sich 2004 aus dem Neuköllner Verein „Hilfe-für-Jungs“, den es seit mittlerweile 30 Jahren gibt. Markus Wickert ist seit elf Jahren dabei. Weil die Räume in Neukölln nicht mehr ausreichten, zog die Traumahilfe vor Kurzem in die Rigaer Straße um. „Hier haben wir drei getrennte Beratungsräume.“ Finanziert wird die Traumahilfe von der Senatsgesundheitsverwaltung. Markus Wickert liebt seine Arbeit, selbst wenn sie ihm schlaflose Nächte bereitet. Was ihn aufbaut, sind Sätze wie: „Danke, mir geht es jetzt viel besser, ich bin stabil.“ Ein Erfolg für den 53-Jährigen. Und dass die Männer wissen, jederzeit zu ihm zurückkommen zu können. „Das ist wie Schokolade im Schrank zu haben.“

Kontakt: MUT – Traumahilfe für Männer*, Rigaer Straße 4, Telefon: 030/80 61 00 77 oder www.mut-traumahilfe.de.

Autor:

Ulrike Kiefert aus Mitte

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