Ein bisschen Respekt

Der öffentliche Verkehrsraum ist hart umkämpft in Berlin, auch der kleinste, ein Fahrradweg beispielsweise. Kürzlich war ich auf dem Weg zum P-Theater in Prenzlauer Berg zu Shakespeares “Viel Lärm um nichts”

- einer wundervollen Liebeskomödie, in der zwei Liebeshungrige, scheinbar nicht ineinander Verliebte mit ein paar Kniffen und Tricks zu ihrem gemeinsamen Liebesglück gezwungen werden müssen.
Vorm Theater eine Szene gar nicht aus dem Komödien-Genre, sondern eher ein Trauerspiel mit - auf der einen Seite - äußerst aufgebrachtem Akteur, eine Art Orlando furioso, und - auf der anderen Seite - Erniedrigten und Beleidigten.
Ein Fahrrad lag (so sah es zumindest aus) derb weggeworfen auf dem Trottoir. Daneben auf dem Fahrradweg Jan aus Prenzlauer Berg, Ende 30, Jeans und T-Shirt, sportlich, erzürnt vom stehenden Fuß bis in die Haare, wütend einschimpfend auf einen alten Mann, der sich blass und niedergebeugt an einen Laternenpfahl lehnte und um Fassung rang. “Alter Trottel … aufpassen bei Tür aufmachen … Mensch, Fahrradweg … ist dir wohl unbekannt …”, vernahm ich bruchstückhaft. Der “alte Trottel” sah gar nicht nach einem aus. Gekleidet in weißen Leinenanzug, gebräunter Haut und naturfarbenen Panamahut, wirkte er eher wie ein Gentleman oder Dandy, der stets takt- und rücksichtsvoll mit seinen Zeitgenossen umgeht. Er stützte sich mit dem rechten Arm an den Mast, rang noch immer nach Atem, schaute zu Boden, erwiderte nichts. Für ihn sprach die Frau neben ihm, vom Alter her seine Tochter: “Nun schreien Sie uns doch nicht so an, es kann doch - ” Jan aus Prenzlauer Berg duldete keine Erläuterungen, “Immer das Gleiche mit euch Autoidioten, beim Aussteigen nicht rechts und links achtend, nichts im Kopf als - ” “So hören Sie doch,” versuchte die Frau ihn zu beruhigen, “er ist ein alter Mann, da kann es schon passieren” - “Passieren, passieren”, höhnte Jan zurück, “es passiert euch ständig, Autotür auf und raus, überhaupt nicht annehmend, dass Fahrradfahrer von hinten kommen könnten, Verstand einfach aus! Das habe ich so oft erlebt.” Ich versuchte mir ein Bild zu machen. Geparktes Auto am Straßenrand, gleich daneben ein Fahrradweg, ein sehr schmaler, nicht breiter als 80 Zentimeter. Zum Bürgersteig hin Abgrenzung durch eine hölzerne Blumenrabatte und einige Betonpoller mit größerem Durchmesser, auf fünf, sechs Metern Länge kein Ausweichen zum Fußgängerweg hin möglich. Jan also auf dem Fahrradweg, ein plötzliches sich Öffnen der Autotür, das Erscheinen eines rechten Beines, Jan mit Vollbremsung oder gar Kollision. Ich schaute mir den Gentleman etwas genauer an. Tatsächlich, eine dunkle Schliere drückte sich an der Wade in die Leinenhose. Er hatte den alten Mann wohl angefahren. Der versuchte immer noch seine physische Stabilität wieder herzustellen, er zitterte am ganzen Leib. Er tat mir leid, doch Jan ließ nicht ab in seinem Zorn - ein Zorn übrigens, den ich als passionierter Fahrradfahrer sehr gut kenne. Ich wollte etwas sagen, wollte beschwichtigen, doch da klang bittend und sanft wie eine Blume die Stimme der jüngeren Frau durch die Umstehenden in Richtung Jan: “Haben Sie doch wenigstens ein bisschen Respekt, Respekt vor dem Alter und verzeihen Sie diesen Fehler.” “Respekt?”, fragte Jan noch immer nicht beruhigt zurück. “Wer hat schon Respekt vor uns Fahrradfahrern? D a s sollten Sie sich mal überlegen.” Er richtete sein Fahrrad auf, stieg auf und fuhr, hart in die Pedale tretend, davon. Die Frau wollte ihm noch etwas hinterherrufen, doch der alte Mann hob jetzt den Kopf, blickte sie ruhig an und murmelte nur: “Lass ihn, er ist ohne Gnade.” Sie und alle Umstehenden verstanden sofort. “Wird es gehen?” fragte sie und hakte sich unter. Er nickte, ließ die Laterne los und beide gingen zum Theatereingang. >GnadeRespekt< dachte ich, gewiss, und schaute, bevor ich den beiden folgte, noch einmal auf den Tatort. “Viel Lärm um nichts eben” warf jemand von den Umstehenden ein und die anderen lachten befreit auf. Nein, dachte ich, es kann gar nicht genug Lärm geben, damit endlich diese gefährliche Verkehrsinfrastruktur dieser dröhnend zugefahrenen Stadt grundlegend geändert wird und die Zahl der Opfer - auf beiden Seiten - minimiert wird. Und nun hatte ich große Lust, die harte Realität der Straße gegen die leichte Fiktion der Bühne einzutauschen und durch etwas Lustiges erfrischt und gereinigt zu werden und ging hinein.

Autor:

Thomas Kunze aus Friedrichshain

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