Neuköllner Eskalation

Es war ein heiterer Herbstmorgen genau vor einer Woche. Ich radelte in die frohe Stimmung hinein, als ich an der Kreuzung P/W-Straße in Neukölln zwei Männer im Streit gewahrte.

Der eine stand vor der aufgerissenen Autotür der Beifahrerseite, sprach laut und erregt auf den anderen ein, der, ebenso erregt, keine Antwort schuldig blieb. Vor der Front des schwarzen E-Mercedes lag ein Fahrrad auf der Straße. Es schien unversehrt, ebenso wie der stehende Mann, der aufgebracht und weiträumig gestikulierte, keine Verletzung zu haben schien. Ich versuchte die Situation zu verstehen und vernahm daher von dem Wortgefecht nur einzelne Brocken: “… ich von rechts gekommen … verdammt noch mal, mir Vorfahrt zu gewähren …” “Hau ab und lass uns in Ruhe … haben nichts getan … musst eben aufpassen, du Arschloch…” Ich stellte mein Fahrrad beiseite und näherte mich den beiden Männern. Jetzt erkannte ich den einen von ihnen, es war mein alter Freund Ali-Ahmad, Anfang 50, heute im dunklen Businessanzug. (Ich habe ihn woanders schon erwähnt.) Er saß auf dem Beifahrersitz, das rechte Bein fest auf den Boden gestampft, deutlich schwitzend und wie zum Sprung bereit. Am Steuer eine Frau mit Kopftuch. Ali-Ahmad also war nicht gefahren, er hatte sich die Vorfahrt also nicht erzwungen - soweit ich annehmen konnte, dass die Anschuldigung des stehenden Mannes wahr waren - es war seine Frau gewesen. Doch das veränderte die Situation nicht, hier lagen zwei Männer im Streit, von dem der eine dem anderen eine gefährdende Verkehrsregelverletzung vorwarf, gegen den sich der andere zur Wehr setzte. Vielleicht war Christian aus Neukölln (wie er sich später vorstellte, gegen Ende 40) doch angefahren worden und nur Glück gehabt, dass ihm nichts weiter passiert war? Ich konnte das im Moment nicht klären, da ich versuchte, beruhigend auf die beiden einzuwirken. “Wie habt ihr denn in der Pampa fahren gelernt, es wird Zeit, dass ihr euch an unsere Regeln haltet!” ging es weiter. Dann war ein irgendwie feuchtes Zischgeräusch zu hören, Christian wischte sich reflexartig mit der linken Hand die Wange frei und brüllte: “Er hat mich angespuckt, dieser widrige Kerl hat mich angespuckt!” Er drehte sich etwas zur Seite und versuchte zu verstehen, schüttelte den Kopf und sagte immer wieder, “Er hat mich angespuckt, er hat mich angespuckt!” Ich wollte die Sache nicht weiter eskalieren lassen, sagte barsch, “Genug jetzt, hört auf, das soll die Polizei klären.“, ging zum Heck des Wagens, zog mein Notizbuch und notierte die Autonummer. Christian hatte sich nicht beruhigt, Groll zog in ihm auf, neigte sich schnell dem Beifahrersitz zu, von dem aus sich schon zwei Arme und ein kampfbereiter Körper entgegenstreckten. Es kam zum Handgemenge. Aus dem Fond des Wagens ertönte ein kindlicher Schrei. Ich war erschrocken, hatte ich doch das kleine Mädchen bisher überhaupt nicht wahrgenommen. Nur ein paar Meter weiter aber lag eine Kita, klar, das Ehepaar war auf dem Weg dorthin, um die Kleine abzusetzen. Ich steckte das Notizbuch ein, zog mein Handy, um die Polizei zu rufen, sah noch, wie sich ein Arm etwas weiter aus dem Auto streckte, als sich Christian abrupt von Ali-Ahmad abwandte, beide Hände vors Gesicht schlug und vor Schmerzen aufschrie. “Dieser Mistkerl hat mich angesprüht, es brennt, verdammt noch mal, es brennt.” Ich ging zu ihm, riss seine Hände vom Gesicht, bat ihn, nicht darin rumzuwischen und sah seine trüben, geröteten, tränenüberströmente Augen. Er versuchte, sie zu öffnen, blinzelte die ganze Zeit, es ging nicht, er war wie blind. Und er war fassungslos, tobend wie Polyphem nach der Blendung durch Odysseus, drohte Ali-Ahmad - doch außer Gefecht gesetzt, er konnte nichts mehr tun, er hatte eine Portion Pfefferspray abbekommen, zweifellos. Und ich war hilflos, was tun? Keine Ahnung. Ich verspürte Lust, mich auf Ali-Ahmad zu stürzen, doch irgendetwas hielt mich zurück. Angst? Seine Tochter im Fond? Seine Ehefrau, die die ganze Zeit nichts sagte? Er war ein gefährlicher Gegner. Ich bat eine junge Mutti, die mit ihrem Kleinen auf dem Weg in die Kita war und das Ganze beobachtete, Wasser zu holen, wählte die 110, stellte schnell mein Fahrrad aufrecht hinter den Mercedes, mich selbst davor, damit Ali-Ahmad keine Chance zur Flucht hatte.
Die Polizeistreife war binnen Minuten vor Ort, kümmerte sich um Christian, sprach mit mir und nahm meine Personalien auf. Ali-Ahmad sagte noch, “… nichts ist wahr davon, nichts ist wahr davon.” Ja, ich kenne dich, Ali-Ahmad, sagte ich bei mir, ich kenne dich sehr gut …”

Autor:

Thomas Kunze aus Friedrichshain

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