Where are you, brother?

Fahrradfahrer sind nicht per se die besseren Menschen, auch wenn sie sich oft dafür halten. (Ich gestehe: ich auch.) Ihr ökologischer Fußabdruck ist einwandfrei (kaum Ressourcenverbrauch, null Emission); sie leben die Freiheit der Selbstbestimmung (Wann fahre ich wie lange mit wem wohin?);

tun aktiv etwas für ihre Gesundheit (Strampeln und Fett verbrennen, entlasten somit präventiv die Kassenkosten); können ein ausgeprägtes Sozialleben leben (gemeinsame Fahrradtouren); sind aufgeschlossen ihrer näheren und nicht so nahen Umgebung gegenüber und lernen stets hinzu (Erkundungsfahrten, Entdeckertouren); sind aufmerksam den natürlichen Gegebenheiten gegenüber (da sie, i.U. zum Auto, unmittelbar sich in der Natur bewegen); verbrauchen gegenüber Automobilen einen geringsten Teil öffentlichen Raumes (Parkplätze); die Konsequenzen eines jederzeit möglichen Fehlverhaltens bei ihnen sind bei weitem nicht so folgenreich wie mit dem Auto (Unfälle, Todesfälle); und sie halten sich überhaupt für die Avantgarde in einer Zeit, in der die (Groß-)Städte unter einem erdrückenden Autoverkehr ächzen und wohl schon bald ihren infrastrukturellen (=verkehrstechnischen) Kollaps erleiden werden. (Haben Sie, verehrte Leser, miterlebt, wie oft in den letzten zehn Jahren z.B. an der Oberbaumbrücke herumgebastelt wurde? Der S-Bahn-Verkehr lahmgelegt war? Die Anzahl der Straßenbaustellen sich etwa verringerte? Die Zahl der maroden Brücken ständig anstieg? Wie lange es dauerte, auch nur ein Schlagloch auszubessern? usw. usf.) Nun gut, Avantgarde jedenfalls, wenn auch eine selbst postulierte.
Da nimmt man doch an, dass diese Avantgarde sich dem gesetzten Ziel entsprechend (eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung vorausnehmend, sie einleitend und durchsetzend) auch gemeinschaftlich-solidarisch nach außen und innen verhält. Nach außen meint hier als geschlossene Gruppe gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern (hauptsächlich den Autofahrern) bei der Durchsetzung ihrer Interessen; nach innen als verständnisvolle, solidarische Gemeinschaft mit einer Art stiller Vereinbarung mit den Verhaltensnormen Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz. Dass dieses Ideal den Praxistest nicht besteht, kann nicht verwundern, weil kein Ideal dies tut, sonst wäre es kein Ideal, was vom griechischen Ursprung her heißt, nur in der Vorstellung existierend. In meiner Vorstellung jedoch behauptet es seinen Platz, bis auf den heutigen Tag. Umso verblüffter bin ich immer wieder, wenn ich in Clinch mit meinen Fahrradkollegen gerate, wenn ich z.B. nach einem freundlichen, unterstützend gemeinten Anruf an meinen Fahrrad-Bruder - dem eine Vollbremsung meinerseits vorausging - “Hey Kollege, du musst schon den Arm raushalten, wenn du abbiegen willst!”, ein “Leck mich doch, ich mache, was ich will!” prompt zurückbekomme. Das ist, so kann man sagen, die falsch verstandene Freiheit eines Fahrradfahrers. Da ich nun als Fahrradfahrer (wie angedeutet) durchaus auch kein besserer Mensch bin, benutze ich hin und wieder (jetzt eine andere Begebenheit) einen unbeschilderten Fahrradweg in Gegenrichtung, um zu meiner Bibliothek zu gelangen. Ich verletze also die StVO und nur deshalb, weil es mir lästig und beschwerlich ist, wegen 150 Metern die Straße (Frankfurter Allee!) zweimal zu überqueren (auf die andere Seite, dort 150m in Fahrtrichtung, Wechsel wieder zurück). Letztens fuhr ich gemächlich wieder in Gegenrichtung. Ein Fahrradler in schwerer Montur und zügiger Geschwindigkeit näherte sich mir, wurde immer schneller und hielt auf mich zu. Ich rückte ganz nach rechts bis es nicht mehr ging, noch fünf, sechs Meter, er wie ein Geschoss noch immer direkt auf mich zu und riss erst (wie man vom Autofahrer sagen würde) im letzten Moment das Steuer herum, schnellte seitlich ganz knapp an mir vorbei und rief hochrotwütend “Du fährst auf der falschen Seite, du Idiot!” und sauste davon. Natürlich hatte er recht, weniger mit dem “Idiot”, mehr mit “falschen Seite”. Ich hatte nicht mit solcherart Annäherung gerechnet und war halbwegs erschrocken. Nach physikalischem Gesetz (E=mc²) hätte er mich Leichtgewicht leicht auf die Straße kicken können. Und was dann passiert wäre, weiß Gott allein. Schnell gefasst (schließlich bin ich täglich auf der Piste), fuhr ich ihm hinterher, stellte ihn an der nächsten Kreuzung. Und ich erkannte ihn, es war Horst aus Lichtenberg, auf einem schweren Crossrad, bewehrt mit Helm, Ellenbogen- und Knieschützern, Handschuhen, Sonnenbrille, Navi, Fahrradshorts und -hemd. Er war untersetzt aber kräftig, mit schweren Knochen, trotz seines Rentenalters mit üppiger Muskulatur, ein Schwergewicht, hätte in jeder Sklavenarena eine beeindruckende Figur abgegeben, mit Publikumsdaumen nach oben. Einer, der 10 000 km im Jahr auf seinem Fahrrad zurücklegt, einer der - wie ich - täglich im Sattel sitzt. Er schaute feindselig. “Hey Bruder”, warf ich ihn an (denn ich halte alle Fahrradfahrer/-innen für meine Brüder und Schwestern), “warum tust du so ‘was? Warum gefährdest du mich derart?” “Bruder?”, ließ er sich verwundert vernehmen, “Bruder - bin nicht dein Bruder, und du bist nur ein weiterer dieser verdammten Fahrradsünder, die sich nicht an die Regeln halten.” “Ja aber,” erwiderte ich, “es sind doch nur ein paar Meter, die ich hier brauche …” und erklärte es ihm. Er wollte nichts davon hören, “Wenn alle sich an Recht und Gesetz hielten”, gab er zurück, “dann wäre alles besser.” “Hältst du dich denn immer -” hob ich noch einmal an, doch da schaltete die Ampel auf Grün und fort war er. Jaja, dachte ich, “alles besser“, doch vorher müssten wir miteinander reden lernen, und du kannst wahrlich nicht mein Bruder sein. Doch ich werde weiter auf der Straße Ausschau halten und in die Welt hinein fragen: Wo bist du, Bruder?

Autor:

Thomas Kunze aus Friedrichshain

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