Mehr als eine Familiensaga
Hinrich Lühmann begab sich mit "Rachulle" auf die Spuren nicht nur seines Vaters
Hinrich Lühmann (79) war Direktor des Humboldt-Gymnasiums. Zwischen 2011 und 2018 gehörte er der BVV Reinickendorf an (parteilos, für CDU) und amtierte während dieser Zeit als Vorsteher. Danach widmete sich Hinrich Lühmann verstärkt seiner Familiengeschichte. Daraus entstand das Buch „Rachulle“, das am 27. Februar vorgestellt wird.
Viele Autoren oder Menschen, die sich dafür halten, beschäftigen sich literarisch mit ihren Familien. Nicht immer sind das Lesevergnügen. Hinrich Lühmann, Germanist und Historiker, kann dagegen mit Sprache umgehen.
Familiengeschichten spiegeln meist Ortsgeschichte, Zeitgeschichte. Mal intensiver, mal weniger. Für Lühmanns Familie gilt Ersteres. Der Autor sieht sie deshalb auch als ein Beispiel für ein bestimmtes Milieu und dessen Anfälligkeit für totalitäres Gedankengut. Wie manche dem erlagen, andere sich widersetzten.
Sein Buch sei ein Familienroman, sagt Hinrich Lühmann. Alle beschriebenen Personen hätten wirklich existiert. Aber viele bekamen andere Namen. Zahlreiche Begebenheiten basierten auf Quellen, etwa Briefe. Es gebe aber auch fiktive Szenen, die sich aber wahrscheinlich so ähnlich abgespielt hätten.
Schon der Einstieg ist interessant. Dort wird berichtet, dass der Ur-Urgroßvater des Verfassers aus fürstlichem Geblüt stammt. „Die Geschichte stimmt“, bekräftigt Hinrich Lühmann. Der Herzog Ernst von Sachen-Coburg und Gotha hätte einst ein Brandenburger Zimmermädchen „beim Bettenmachen“ geschwängert. Das Ergebnis sei sein Urgroßvater gewesen. Belegt wäre das schon dadurch, dass das Fürstenhaus bis 1918 Alimente gezahlt habe. Beim Herzog Ernst handelte es sich um den Bruder des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Ehemann der britischen Königin Viktoria. Die Lühmanns sind also weitläufig mit den englischen Royals verwandt.
Der illegitime halbadlige Urgoßvater spielt im weiteren Verlauf des Romans kaum noch eine Rolle. Erwähnenswert ist noch, dass er 1943 in Frohnau stirbt. Zur Hauptfigur wird vor allem Hinrich Lühmanns Vater, der im Buch Fritz Eckhoff heißt. Auf ihn geht auch der Titel „Rachulle“ zurück, ein Kosename, mit dem seine Mutter ihn vor allem dann ansprach, wenn es Ärger gegeben hatte. Rachulle, so wird erklärt, sei ein ostpreußischer Name für jemanden, der sich durchzusetzen weiß.
Hinrich Lühmann hat seinen Vater nie kennengelernt. Er fiel als Soldat Anfang 1945 in der Nähe von Frankfurt an der Oder. Offiziell galt er lange als vermisst. Der Sohn war zum Zeitpunkt seines Todes knapp ein Jahr alt. Vieles über ihn erfuhr er erst bei den Recherchen zum Buch. Wie in vielen Familien sei auch in seiner kaum über die Vergangenheit im Nationalsozialismus gesprochen worden. Die Großmutter hätte seinen Vater als Helden gezeichnet, außerdem existierte noch die Erzählung, er sei in einem sowjetischen Lager und würde irgendwann zurückkommen.
Den Anfang seiner Spurensuche markierte der Hinweis eines ehemaligen Kollegen auf die Erinnerungen des Scharfenberg-Absolventen Heinrich Scheel. Heinrich Scheel gehörte dort zu einer kommunistischen Schülervereinigung, später war er Teil der von den Gestapo „Rote Kapelle“ titulierten Widerstandsgruppe. Nach dem Krieg und einem kurzen Intermezzo als Direktor von Scharfenberg ging er in die DDR, wirkte dort als Historiker und lange Zeit auch als Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften. Im Buch von Scheel wird Lühmanns Vater als überzeugter Nazi beschrieben. „Bis ich das las, wusste ich nicht einmal, dass er auf Scharfenberg war“, sagte der Sohn.
Dieser Fritz Eckhoff war schon 1931 mit 13 Jahren in die Hitlerjugend eingetreten. Schon früh beteiligte er sich an Schlägereien und Saalschlachten. In der Schule war er völlig desinteressiert, weshalb er zweitweise ins „Exil“ nach Scharfenberg geschickt wurde. Nach 1933 wurde ihm allerdings mit ehrerbietendem Opportunismus begegnet. „Er war ein Rüpel und ein Schlägertyp“, lautet die Beschreibung seines Sohns. Aber seine Charakterisierung ist nicht durchweg negativ. Fritz Eckhoff schrieb Gedichte, war Mitglied der Bekennenden Kirche, zeichnete sich als Soldat durch Tapferkeit aus. Gerade an seinem Beispiel wird das „Warum“ dieses Wegs oder besser Abwegs gestellt.
Das gilt auch für seine Großeltern Auguste und Johannes Eckhoff. Auguste, Mittelpunkt und dominante Figur der Familie mit einem festgefügten Konventionenkorsett, das zum Beispiel der Frau eine rein dienende Funktion zuwies. Postulate, die sie auch in ihren Romanen vertrat, denn vor allem während der Nazizeit war die Großmutter eine recht erfolgreiche Schriftstellerin.
Ehemann Johannes wird in den 1920er Jahren Direktor eines Friedenauer Gymnasiums. Als Lehrer ist er bereits im Kaiserreich durch einen Unterricht abseits von Zucht und Strenge aufgefallen. In der Weimarer Republik wird er deshalb als Reformer gesehen, der er aber nicht war. Trotz nationalkonservativer Gesinnung verweigert er 1933 den Eintritt in die NSDAP. Das führt zwar nicht zur Entlassung, aber zur „Degradierung“. Statt ein ehrwürdiges Gymnasium leitet er in den kommenden Jahren mehrere Mädchenlyzeen.
Dass er seinen renitenten Sohn nach Scharfenberg schickt, hing mit der Bekanntschaft zu Wilhelm Blume zusammen. Wilhelm Blume, der Gründer und langjährige Leiter der Schulfarm, gehört zu den Personen, die im Buch mit ihren wirklichen Namen auftauchen. Seinem Bild werden einige bisher weniger erwähnte Facetten hinzugefügt. Er hat es unter den Nazis als einer der ganz wenigen Parteilosen geschafft, im Amt bleiben zu dürfen, sagt Hinrich Lühmann. Das geschah nicht ohne Zugeständnisse an das Regime.
Scharfenberg, auch Tegel sind Schauplätze des Romans im Bezirk Reinickendorf. Zum wichtigsten wird aber Frohnau und dort das „Gelbe Haus“. Es wurde von den Großeltern in den 30er Jahren gekauft, war Rückzugsort, Trutzburg, Hort, in dem deutscher Geist und Kultur den Ton angeben sollten. Damit gemeint waren Goethe, Schiller, Kant und andere Heroen der Vergangenheit. Nicht die Moderne, Thomas Mann und schon gar nicht Bertolt Brecht.
Hinrich Lühmann ist dort aufgewachsen und wohnt heute mit seiner Frau in diesem Gelben Haus. Er kann sich noch an den gespreizt bildungsbürgerlichen Habitus erinnern, der hier einst herrschte. Und er hat daraus Schlüsse für sein Leben gezogen. „Es ist gefährlich, Ideale zu verwirklichen“. Das gelte selbst für positive Ideale. Auch heute gebe es zu viele „Glaubensfilter“. Sie würden aber Gefahren in der Realität bedeuten. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigten, wie dünn die Grenze zu einem ganz anders gearteten Ideal sei.
Die Vorstellung des Buchs findet am Dienstag, 27. Februar, ab 19.30 Uhr in der Humboldt-Bibliothek, Karolinenstraße 19, statt.
Rachulle ist im Berliner Vergangenheitsverlag erschienen und kostet 20 Euro.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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