„Die Kirche muss raus ins Leben gehen“
Wie die Evangelische Kirchengemeinde Hellersdorf in der Großsiedlung gegen die Bedeutungslosigkeit ankämpft
Bevor Nico Vajen 2017 die Pfarrstelle in der Evangelischen Kirchengemeinde Hellersdorf antrat, erkundigte er sich zunächst über sein neues Einsatzgebiet. Nahe einer Großsiedlung mit zumeist konfessionslosen Menschen seelsorgerisch tätig zu sen, war für den aus Niedersachsen stammenden 40-Jährigen eine neue Erfahrung.
„Ich fand das sehr spannend und wollte mit meiner Frau hier her“, erzählt er. Heute wohnt er im Pfarrhaus gleich neben der Kirche in der Glauchauer Straße. Vorher hatte er bereits in Brandenburg als Pfarrer gearbeitet. Sein Traumberuf von klein auf sei das allerdings nicht gewesen. Zunächst habe er eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Angestoßen durch seine evangelische Jugendarbeit entschied er sich dann jedoch zu einem Theologiestudium. 2013 wurde er schließlich ordiniert. Die Gemeindearbeit selbst unterscheide sich in Hellersdorf nicht im Vergleich zu seinen früheren Arbeitsorten. „Eigentlich erlebe ich hier eine große Offenheit“, sagt er.
Dennoch erlebt die Gemeinde, die im vergangenen Jahr ihr 30. Jubiläum feierte, seit Jahren einen Mitgliederschwund. Vor fünf Jahren seien es noch 3500 Mitglieder gewesen. Heute sind es 3200. Bei einem Einzugsgebiet von rund 80 000 Menschen sind das vier Prozent, ein geringer Anteil. Austritte und sinkende Mitgliederzahlen verzeichnen die Kirchen jedoch überall in Deutschland. „Wir sind im Grunde keine Volkskirche mehr. Das ist eine Entwicklung, die wir auch nicht aufhalten können“, stellt der Pfarrer fest.
Die Gründe für den Austritt erfahre er meist nicht. Die Bekanntgabe erfolgt beim Amtsgericht. Zumindest weiß Nico Vajen aber, dass die meisten Christen im Alter rund um die 30 treten ihrer Kirche den Rücken kehren. „Vielleicht auch aus Misstrauen gegenüber großen Institutionen.“ Gemeindepädagogin Barbara Jungnickel sieht zudem einen finanziellen Aspekt. Viele wollten die Kirchensteuer einfach nicht mehr bezahlen. „Hier muss man schon um jede Seele kämpfen und ein attraktives Angebot machen. Das ist kein Selbstläufer“, sagt der Pfarrer. Nachwuchs für die Kirchengemeinde zu gewinnen, sei nicht einfach. Die Kirche stehe diesbezüglich heute auch in Konkurrenz zu Musikschulen, Sportvereinen und Schul-AGs.
Vor Kurzem habe er einen Brief mit Informationen über die Taufe an Gemeindemitglieder mit einem Kind im Alter von eins bis elf Jahren geschrieben. Daraufhin habe es immerhin sieben Anmeldungen für das am 26. Juni stattfindende Tauffest gegeben. „Es hilft, die Leute daran zu erinnern.“ Außerdem schreibe er jedes Jahr um die 50 Jugendliche an, von denen dann etwa sechs bis zehn den Konfirmandenunterricht besuchen. „Was ist Kirche? Wer war Jesus? Wie hat er gelebt? Das ist ein Mix aus Spiel, Lernen und Spiritualität“, erklärt Nico Vajen. In die Hellersdorfer Kirche kämen aber auch viele Menschen, die einfach nur die Konzerte, die Lesenacht oder die Kindernachmittage dort besuchen möchten.
„Die Kirche muss raus ins Leben gehen, wo die Menschen sind“, sagt Barbara Jungnickel. Nur so werde Aufmerksamkeit erreicht und Interesse geweckt, und nur so könnten die Menschen mit der Kirche in Kontakt kommen. Dafür geht die Gemeindepädagogin seit Jahren einen eigenen Weg. Mit ihrem „Café auf Rädern“ besucht sie öffentliche Plätze im Kiez und sucht das Gespräch. Die Idee dazu entstand als Reaktion auf die Proteste gegen die 2013 eröffnete Gemeinschaftsunterkunft in der Carola-Neher-Straße. Damals, so erinnert sich Jungnickel, brüllten Rechte auf den Straßen Parolen wie „Nein zum Heim“. Und zahlreiche Nachbarn liefen einfach mit. Darüber sei sie entsetzt gewesen. Ihre Schlussfolgerung war, dass sich die Leute offenbar vernachlässigt gefühlt haben.
„Wir haben ganz bewusst nicht Kirche rangeschrieben. Das würde, glaube ich, viele abschrecken“, sagt sie. Oft bekomme sie noch heute die Frage gestellt, ob sie missionieren wolle. Das sei aber nicht der Fall. In den Gesprächen gehe es um alle möglichen Themen: um Wohnungen, Politik und Medien, Ausbildung und Arbeit, vom einfachen Smalltalk über das Wetter bis hin zur großen Lebensbeichte. Sie sei eine geduldige Zuhörerin und versuche nicht, die Gesprächspartner von ihrer eigenen Meinung zu überzeugen. „Der Vorteil ist, dass ich selbst hier im Plattenbau lebe. Ich bin eine von ihnen.“ Viele hätten noch heute ein altes Bild von der Kirche. „Man hat nur Verbote, die man beachten muss, sitzt fromm da und betet viel“, berichtet sie. Dabei könne es in der Kirche auch lustig zugehen. Dort seien auch nur ganz normale Menschen mit Fehlern. Um genau das zu zeigen, präsentiere sich die Gemeinde beispielsweise bei Schul- und Stadtteilfesten. Das komme gut an.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
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