Ein neuer Stolperstein Am Falkentaler Steig 16
Das zweite Leben des Harry Gabriel, der als Holocaust-Opfer galt
Stolpersteine erinnern in aller Regel an Menschen, die in der Nazizeit ermordet wurden. Und selbst wenn ein Stolperstein für Überlebende des Holocausts gesetzt wird, verbindet sich damit eine Biografie von Verfolgung, Haft, Konzentrations- oder Vernichtungslager, ein Überleben mit viel Glück, wie im Fall von Harry Gabriel.
Der damals 14-Jährige wurde im September 1942 zusammen mit mehr als 1000 Menschen nach Estland deportiert. Nachweisbar hatten nur 25 diesen Transport in den Tod überlebt. Harry Gabriel befand sich nicht darunter. Deshalb ging auch die AG Stolpersteine Reinickendorf davon aus, dass er Opfer der Vernichtung geworden war. Im März 2010 ließ sie einen Stein zu seinem Gedenken am Haus Falkentaler Steig 16 in Hermsdorf setzen. Darauf stand unter anderem: „Ermordet in Raasiku“, einem Ort nahe der heutigen Stadt Tallinn.
Einige Jahre später wurde deutlich. Diese Angabe stimmte nicht. Harry Gabriel war durch eine abenteuerliche Flucht entkommen. Er starb 2009 in Israel. Deshalb wurde am 16. August am Falkentaler Steig 16 sein bisheriger Stolperstein durch einen neuen ersetzt. Er vermerkt jetzt „Flucht aus dem Zug. Schweiz“. Eine kurze Angabe, die für ein zweites Leben steht.
Am Falkentaler Steig 16 befand sich seit 1926 ein jüdisches Kinderheim, in den ersten Jahren der Nazizeit eine Synagoge. Nach 1938 mussten Juden in das Gebäude einziehen, viele wurden von dort deportiert und ermordet. Hausmeister am Falkentaler Steig waren Willy und Eliese Redlich, er jüdischen, sie nichtjüdischen Glaubens. Das Ehepaar nahm den kleinen Harry wahrscheinlich um das Jahr 1930 zu sich, weshalb auch auf dem ersten Stolperstein sein Name mit Harry Gabriel-Redlich vermerkt wurde. Die leibliche Mutter war anscheinend alleinerziehend und fühlte sich mit zwei Kindern (es gab noch eine ältere Schwester) überfordert. Mutter und Schwester wurden ungefähr zur selben Zeit ermordet, als Harry Gabriel das Entkommen in die Schweiz geglückt war.
Der Junge wächst in Hermsdorf auf, besucht aber, zumindest nach seiner Erinnerung, die Volksschule in der Choriner Straße in Mitte. Er muss als Schüler deshalb regelmäßig einen langen Weg mit der S-Bahn vom Vorort in die Innenstadt zurücklegen. Vielleicht hätte er schon in diesen Jahren einige Eigenschaften abbekommen oder sich angelernt, die ihm später geholfen hätten, überlegte Eckhard Rieke von der AG Stolpersteine, der in einem kleinen Buch die inzwischen bekannte Lebensgeschichte zusammengefasst hat.
Nach seinem Schulabschluss zu Ostern 1942 wollte Harry Gabriel eine Schlosserlehre bei seinem Pflegevater machen, der diesen Beruf erlernt hatte. Stattdessen wurde er als sogenannter „jüdischer Mischling“ zur Zwangsarbeit verpflichtet. Im August 1942 unternahm der 14-Jährige einen ersten Fluchtversuch, um nach Dänemark zu kommen. Er wurde gefasst, ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht und nach einmonatiger Haft auf den Deportationszug gesetzt.
Die Fahrt „in den Osten“ begann am 26. September 1942 am Güterbahnhof Moabit. Irgendwo auf der Strecke, wahrscheinlich in Polen, gelang Harry Gabriel die Flucht. Er habe zusammen mit anderen Jugendlichen den Boden eines Waggons aufgebrochen, berichtete Eckhard Rieke.
Harry Gabriel schlug sich zunächst bis Berlin durch, versteckte sich in der ersten Zeit bei Freunden, suchte dann seine Pflegeeltern am Falkentaler Steig auf. Die versorgten ihn mit Essen, ein Übernachten im Haus galt allerdings als zu gefährlich. Harry Gabriel verbrachte deshalb drei Nächte im nahe gelegenen Hermsdorfer Forst. Seine Pflegeeltern besorgten ihm danach eine Bahnfahrkarte in Richtung Süddeutschland. Auch diese Fahrt war ein gefährliches Unternehmen, das jederzeit mit einer Entdeckung enden konnte. Im Fall von Harry Gabriel blieb sie aus. Am 14. November 1942 überwand er die Grenze zur Schweiz.
Diese und weitere Recherchen sind vor allem Gabriel Heim zu verdanken. Der Schweizer Publizist, Autor und Filmemacher veröffentlichte 2018 das Buch „Diesseits der Grenze“, für das er Lebensgeschichten von Emigranten in seinem Heimatland anhand von Akten der Fremdenpolizei auswertete. Dabei stieß er auch auf den Namen Harry Gabriel. Der habe ihn schon deshalb interessiert, weil der Nachname identisch mit seinem Vornamen gewesen sei, bestätigte der bei der Stolpersteinverlegung anwesende Gabriel Heim.
Er hat noch weiteres in Erfahrung bringen können. In der Schweiz wurde Harry Gabriel zunächst interniert. Er ist auch dort immer wieder aus den Lagern geflohen und wieder gefasst worden, erwähnte Eckhard Rieke. Dass ihn die Schweiz nicht ziemlich schnell wieder abschob, was sie in anderen Fällen auch nach Nazideutschland getan hat, lag vor allem daran, dass der Geflüchtete über keine Personaldokumente verfügt habe. Das rettete ihn über den Krieg. Als es dann im August 1945 zur Abschiebung kam, war Deutschland befreit.
Harry Gabriel hat es danach nicht lange in seinem Geburtsland ausgehalten. Für kurze Zeit war er in Italien, am 17. Januar 1946 ist seine Einreise in das heutige Israel verzeichnet. Er lebte die ersten Jahre in einem Kibbuz, wo er auch seine Frau kennenlernte. Arieh Gabriel, wie er sich jetzt nannte, hatte drei Kinder, das Jüngste ist der Sohn Uri (heute 68), der anlässlich des Stolpersteinaustauschs mit seiner Tochter Ofri (29) angereist war.
Von der Vergangenheit des Vaters und Großvaters hätte die Familie erst durch Gabriel Heim erfahren, erzählte Uri Gabriel. Zu seinen Lebzeiten sei darüber geschwiegen worden. Umso mehr Interesse zeigten Sohn und Enkelin jetzt an biografischen Spuren. Bei ihrem Aufenthalt haben sie außer dem Falkentaler Steig auch weitere Orte in Berlin besucht, die einen Bezug zu Harry Gabriel, und damit ihrer Familiengeschichte haben.
Sein Vater sei „ein glücklicher Mensch“ gewesen, resümierte Uri Gabriel. Vielleicht deshalb, weil er wusste, dass ihm, auch durch eigenes Zutun, ein zweites Leben geschenkt worden war.
Für andere ehemaligen Bewohner am Falkentaler Steig 16 galt das nicht. Vor dem Haus befinden sich acht weitere Stolpersteine, alle in Erinnerung an Menschen, die Opfer des Holocausts geworden sind.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.