Voll der Osten
Kluge Ausstellung über das Leben in der DDR im Rathaus Tiergarten
„Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das ist verloren gegangen“, sagt Sonja und wirkt dabei gar nicht wehmütig, eher realistisch analysierend. Wir treffen die ehemalige Theatermitarbeiterin im zweiten Obergeschoss des Rathauses Tiergarten. Sonja betreut die Besucher der Fotoausstellung „Voll der Osten“. Die Plakatschau über das Leben in der DDR ist aufgrund des großen Publikumsinteresses soeben bis zum 17. August verlängert worden.
Sonja kommt gerne mit den Besuchern ins Gespräch. Sie ist in der DDR aufgewachsen. Sie hat also das, was die Fotografien zeigen, selbst erlebt. Die grauen Fassaden der Häuser, die schlechte Luft. „Wenn man mit dem Zug durch Bitterfeld fuhr, bekam man selbst bei geschlossenen Fenstern keine Luft“, erinnert sich die Frau mit dem feuerroten Haar. Und: „In Bitterfeld konnte man keine Wäsche draußen zum Trocknen aufhängen. Die wäre schwarz geworden.“
„Schutzraum gegen die da oben“
Sonja erzählt von der Gemeinschaft, die den Alltag erträglich machte. Der Historiker und Germanist Stefan Wolle, auch er in der DDR aufgewachsen, spricht vom „Schutzraum gegen die da oben“. Wolle hat die Texte der Ausstellung verfasst. Viel Eigenes, selbst Erlebtes fließt in sie hinein. Sie sind einfühlsam und präzise wie die über 100 bekannten und unbekannten Fotos, die zusammen mit den Texten auf 20 Tafeln präsentiert werden.
Fotograf ist Harald Hauswald, Jahrgang 1954, Mitbegründer der legendären Bildagentur Ostkreuz. In den 80er-Jahren zog er durch die Straßen und hielt mit seiner Kamera im Bild fest, was andere Fotografen für unbedeutend hielten oder schlicht übersahen: Alltagsszenen, einsame und alte Menschen, Liebespaare, Rocker, Hooligans, junge Leute in der Kirche, verfallene Häuser, Schlangen vor Lebensmittelgeschäften. Das brachte Harald Hauswald alles andere als Lorbeeren ein, obwohl laut Propaganda der DDR der Mensch im Mittelpunkt stand.
„Voll der Osten“ ist eine Bilderreise durch die DDR. Sie zeigt eine ungeschminkte Realität; das Leben in der DDR zwischen Propaganda und Nischen, die sich die Bürger schufen. Die Schau erzählt von Zärtlichkeit, Widerspruch, Verfall, Traurigkeit, Sehnsüchten, Rebellion, Neugier, Heiterkeit, von Kindheit und Jugend, von Gemeinschaft, Einsamkeit und Flucht. „Die Fotos der Ausstellung sind eine Bilderchronik des Abschieds geworden – eines Abschieds freilich, der auch ein Aufbruch war“, schreibt Stefan Wolle auf der letzten Tafel.
„Voll der Osten. Leben in der DDR“, herausgegeben von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Ostkreuz Agentur der Fotografen, ist im Rathaus Tiergarten, Mathilde-Jacob-Platz 1, zu sehen. Geöffnet ist montags bis freitags 8 bis 19 Uhr. Eintritt ist frei.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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