Wenn aus Geschichten Geschichte wird
Zeitzeugenbörse fördert seit fast 30 Jahren Erinnerungskultur
„Meine Familie kommt aus beiden Teilen Deutschlands und mein persönliches Thema ist das Leben in der geteilten Stadt und im damaligen West-Berlin“, sagt Jens Splettstöhser. Der 66-jährige pensionierte Polizeibeamte ist Vorstand des Vereins Zeitzeugenbörse (ZZB) und selbst als Zeitzeuge im Verein aktiv.
Den Austausch zwischen den Generationen fördern, eine Plattform für Erinnerungen schaffen und damit das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft bewahren, das sind die wesentlichen Ziele des 1993 gegründeten Vereins. Durch die Vermittlungsarbeit und Dokumentationen der ZZB erhalten Interessierte Einblicke in erlebte Geschichte und können im Dialog mit Zeitzeugen historische Ereignisse reflektieren.
Ältere Menschen erfahren in der Zeitzeugenarbeit, wie aus ihren Geschichten Geschichte wird. So auch Jens Splettstöhser, der nach seiner Pensionierung vor dreieinhalb Jahren seinem Geschichtsinteresse folgte und über eine Anzeige zur Zeitzeugenbörse kam. „Aus lockerem Mitmachen wurde schnell intensives Engagement bis hin zur Vorstandsarbeit.“ Als Zeitzeuge berichtet er nun über seine Erfahrungen im West-Berlin der 70er- und 80er-Jahre, die Zeiten von Hausbesetzungen und RAF-Terror.
Momentan 120 Zeitzeugen
Insgesamt 60 Mitglieder umfasst der Verein, rund 25 Ehrenamtliche koordinieren die Vermittlung von momentan rund 120 Zeitzeugen, der älteste von ihnen ist 97 Jahre alt. Zumeist würden Zeitzeugen von Schulen nachgefragt, so Splettstöhser. Die seien entsprechend der Lehrpläne in erster Linie an Geschichten über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg interessiert. Aber auch Erfahrungen aus Nachkriegszeit, Mauerbau und geteiltem Deutschland, aus dem DDR-Alltag, von Flucht und Mauerfall würden oft nachgefragt. Je weiter zurück die Geschichten in der Vergangenheit liegen, desto weniger überlebende Zeitzeugen gibt es natürlich. Von den 26 ältesten hat der ZZB deshalb die Erinnerungen in ein- bis vierstündigen Videointerviews festgehalten und auf die Internetseite des Vereins gestellt.
Und wie ist die Resonanz auf die erzählten Geschichten? „Die Schüler wissen oft über viele geschichtliche Zusammenhänge recht wenig“, meint Jens Splettstöhser. „Gleichwohl erleben wir, wie gebannt sie den Erzählungen der Zeitzeugen zuhören. Erlebnisse aus erster Hand zu erfahren hat eben eine andere Intensität und Qualität, als trockene historische Fakten aus Büchern zu lernen.“ Dringend gesucht werden übrigens Zeitzeugen noch für zwei Themen. Zum einen sind persönliche Erlebnisse rund um die Oppositionsbewegung in der DDR und die Studentenbewegung in West-Berlin gefragt.
Thema Einwanderung
Die zweite Thematik betrifft ein konkretes ZZB-Projekt, das die Geschichte der Migranten in Berlin zwischen 1960 und 1990 in den Fokus nimmt. „Wir suchen Menschen aus der ersten Einwanderungsgeneration, die als sogenannte Gast- oder Vertragsarbeiter mitgeholfen haben, diese Stadt aufzubauen und geblieben sind“, sagt Jens Splettstöhser. „Ihre Sicht auf die deutsche Geschichte vor dem Hintergrund ihrer eigenen Herkunft, ihre Lebenswege und Erfahrungen sind ganz sicher heute auch für viele Schüler interessant, die selbst aus Familien mit Migrationshintergrund stammen.“ Ein aktiver Beitrag zur Integration also, der allerdings nicht einfach ist, weiß Jens Splettstöhser. „Natürlich gibt es Hemmschwellen, möglicherweise aufgrund von persönlichen Vorbehalten oder vielleicht wegen sprachlicher Barrieren. Sich vor eine Schulklasse zu stellen und seine Geschichte zu erzählen will geübt sein.“ Deshalb treffen sich die Zeitzeugen regelmäßig auf vereinsinternen Veranstaltungen, um sich kennenzulernen, sich auszutauschen und Einsätze vorzubereiten.
Während der Corona-Pandemie sind die allerdings rar geworden, ebenso wie die Anfragen der durch Unterrichtsausfälle gebeutelten Schulen. Gleichwohl sind die ZZB-Mitglieder zuversichtlich, dass es im Sommer wieder losgeht. Die Zeitzeugen sind derweil auch anderweitig aktiv, zum Beispiel in Museen, bei geschichtlichen Veranstaltungen und Führungen, die Hotels ihren Gästen anbieten, sowie vereinzelt auch für Filmproduktionen, Doktorarbeiten und Autoren, die auf der Suche sind – nach authentischen Perspektiven von Zeugen vergangener Zeiten.
Zeitzeugenbörse e. V., Togostraße 74, 13351 Berlin, Tel. 44 04 63 78. Weitere Informationen über den Verein gibt es im Internet auf www.zeitzeugenboerse.de.
Autor:Michael Vogt aus Prenzlauer Berg |
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