„Strukturelle Gewalt hat lange Tradition“
Annemarie Schoß, Leiterin der Städtegruppe von Terre des Femmes, über die Situation der Frauen in Berlin
Viele Organisationen weltweit haben sich den Kampf um die Gleichberechtigung und die Menschenrechte von Frauen auf ihre Fahnen geschrieben. Berliner-Woche-Reporter Michael Vogt sprach mit Annemarie Schoß, der Leiterin der Städtegruppe Berlin von Terre des Femmes, über die Situation der Frauen in Berlin.
Die Benachteiligung und die Verletzung der Menschenrechte von Frauen scheint auf den ersten Blick weit weg zu sein, wird oft eher in Ländern der sogenannten Dritten Welt verortet. Wie schätzen Sie diesbezüglich die Lage in Deutschland, speziell in Berlin ein?
Annemarie Schoß: Die Realität in Deutschland und vor allem in Berlin sieht tatsächlich anders aus. Unsere Erfahrung zeigt, dass in der Stadt viele Arten von Ungleichheit und Diskriminierung, Unterdrückung und körperlicher Gewalt gegenüber Frauen existieren. Das reicht von Gewalt im Namen der sogenannten Ehre über Zwangsheirat bis hin zu Fällen weiblicher Genitalverstümmelung. Die strukturelle Abwertung der Frau ist nicht immer nur importiert. Häusliche sexualisierte Gewalt, Frauenhandel und Prostitution oder frauenfeindliche Werbung haben auch hierzulande eine lange Tradition.
Wie begegnen Sie diesen Problemen, wie sieht Ihre tägliche Arbeit in der Berliner Städtegruppe aus?
Annemarie Schoß: Es bedarf zu allen Themen zunächst einer stetigen und hartnäckigen Aufklärungsarbeit. Die Bevölkerung und vor allem die politischen Entscheidungsträger müssen mitbekommen, dass es um weibliche Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Freiheit in einigen Bereichen dieser Stadt noch lange nicht zum Besten steht.
Haben Sie ein Beispiel für eine solche problematische Lebenswirklichkeit?
Annemarie Schoß: Ich bin von Hause aus Soziologin und über das Thema Prostitution auf Terre des Femmes aufmerksam geworden. Der Verein hat eine klare Haltung dazu, die sich stark am sogenannten Nordischen Modell orientiert. Das stellt – anstatt die Prostitution zu bagatellisieren und Prostituierte zu kriminalisieren – deren Hilfsbedürftigkeit in den Fokus. Die Polizei übt besonders Druck auf die Freier aus, während Sozialarbeiter die Prostituierten beim teils überaus schwierigen Ausstieg aus dem Milieu unterstützen. Wir kämpfen dafür, dass sich dieses Modell auch in Deutschland durchsetzt, wo Prostitution allzu oft leider noch als ein Job wie jeder andere gesehen wird.
Können Sie in diesem Kampf Erfolge benennen?
Annemarie Schoß: Wir haben zum Beispiel im vergangenen Jahr eine Aktion gegen ein geplantes Bordell in Charlottenburg gestartet, für das bereits die Baugenehmigung erteilt wurde. Durch unsere Briefverteilaktion vor Ort sind viele Anwohner erst auf die Situation aufmerksam geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass sie es gar nicht so normal finden, wenn sich Prostitution plötzlich vor ihrer eigenen Haustür abspielen würde. Die Baugenehmigung besteht zwar nach wie vor, aber wir haben in der Sache sehr viel positives Feedback und Unterstützung bekommen.
Wie steht es um Ihre geplanten Aktionen in Hinblick auf die derzeit schwierige Pandemiesituation?
Annemarie Schoß: Auch in der Pandemie gehen wir, natürlich unter Einhaltung aller Regeln, auf verschiedenste Arten an die Öffentlichkeit. So veranstalteten wir am Internationalen Frauentag eine Mahnwache am Brandenburger Tor, um auf die Situation von prostituierten Frauen aufmerksam zu machen. Ähnliches ist am Internationalen Tag gegen Prostitution (5. Oktober) und am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November) fest eingeplant. Zudem nutzen unsere Arbeitsgruppen verstärkt das Internet und die sozialen Medien. Derzeit bauen wir einen Youtube-Kanal zum Thema Pornographie auf, um besonders Jugendliche für die Problematik zu sensibilisieren. Was macht es mit dem Frauenbild, wenn selbst Kinder heute über das Internet kaum kontrollierbare Zugangsmöglichkeiten zu frauenfeindlichen pornographischen Inhalten haben?
In welchen Kooperationen und Netzwerken ist die Städtegruppe noch aktiv?
Annemarie Schoß: Bundesweit ist unser Verein sehr gut vernetzt, lokal arbeiten wir seit Jahren erfolgreich mit den Sisters Berlin zusammen. Darüber hinaus suchen wir immer nach Kooperationspartnern und neuen Ideen. Hier ist stets Flexibilität und Kreativität gefragt. Aktuell gründen wir einen „Aktionskreis Berlin Pro Nordisches Modell“, um uns mit anderen Berliner Vereinen zusammenzuschließen. Denn gemeinsam sind wir stärker. Auch haben wir die BVG und den Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg angeschrieben, um mit ihnen die zunehmende Belästigung von Frauen in Verkehrsmitteln anzugehen.
Autor:Michael Vogt aus Prenzlauer Berg |
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