Trau Dich!

Draußen ist ein Wetter, dass ich froh bin jetzt im Wartezimmer bei meinem Arzt zu sein. Aber hier ist es auch ziemlich voll. Na gut, ein Stuhl ist noch frei. Ein jeder sitzt hier so still vor sich hin. Nach innen gekehrt: Mein "Guten Tag" wird möglicherweise zur Kenntnis genommen, aber nicht beantwortet. Nun ja, wer hier herkommt hat in erster Linie mit sich selber zu tun.
Neue Patienten kommen. Es bildet sich eine kleine Schlange, um die Krankenkarten abzugeben und zu erklären, warum ein jeder hier ist.
Jetzt kommen noch weitere Patienten. Ja, ich merke es auch die Luft wird dicker. Ich mache das Fenster auf. Aber einige fangen an zu mosern: "Das ist ja furchtbar" und die Frau schaut mich Zustimmung fordernd an. Ich traue mich nicht direkt zu antworten und zaubere nur ein kleines Lächeln in mein Gesicht, verbunden mit leichtem Kopfnicken. Das reicht ihr aber nicht.
"Es ist doch wirklich blöd; so viel unnütz verbrachte Zeit…."
Jetzt nicken auch andere. Ein älterer Herr: "Ja kann man das denn nicht anders organisieren?" Ich merke, die Luft wird dicker, beinahe zum Schneiden.
Vorsichtig schalte ich mich ein: " Ja, wir könnten doch gemeinsam ein Lied singen!! Oder so was…!" Einige schauen mich aufgeschreckt an. Immerhin, eine Mutter mit Tochter schauen sich gegenseitig an und nicken sich still zu.
Das macht mich mutig und ich werfe in den Raum: "Wir sind doch hier alle Patienten. Und das heißt auf gut Deutsch: Geduldige."
Immerhin einige schauen jetzt ein wenig interessiert zu mir. Und da höre ich mich doch sagen: "Ich könnte euch allen hier ja einige von meinen zum Teil selbst gemachten Gedichten darbringen! Ich kann das!"
Zuerst will ich mich erschrocken selbst zur Ordnung rufen, aber dann hat die Tochter gesagt: "Oh ja!"
Also doch einfach mal anfangen? Ja, los!

"Gestern hab ich mich verschluckt.
Da hab ich erst mal dumm gekuckt.
Doch heut kam das Besinnen:
Ich seh' mich ja jetzt von Innen!
Und was ich da seh', hätt' ich nie gedacht;
Ich bin zu hundert Prozent aus mir selber gemacht!"

Immerhin ein paar Lächler werden raus gelassen. Aber andere trauen der Situation noch nicht. Sie lesen ostentativ weiter ihre Zeitung!
Ich denke:"Na warte, euch hol ich mir noch!"
Ich erzähle einfach weiter:

"Gestern überfiel mich nach Mitternacht
Ein Schmerz, und hat mich fast umgebracht.
In meinem Backenzahn ganz oben hinten
Konnte ich ihn nächtlings finden.
Heut ließ ich ihn.
Mir heimlich zieh'n,
Und wenn der Schmerz jetzt wiederkommt,
Dann wird der prompt
Seinen Platz im Backenzahn suchen
Ihn nicht finden und mich verfluchen.
Ich aber bin seit heute
voller Schadenfreude.
Ich konnt' mithilfe des Dentisten
Den Schmerz so überlisten!"

Na ja, das Eis war gebrochen. Ganz vereinzelt nur, aber immerhin ein vorsichtiges Klatschen.
Aber einige hatten sich immer noch nicht getraut zuzugeben, dass es mit meinen Gedichten besser war, als alleine mit ihrer eigenen Sauerkrautmiene.
Ich war aber jetzt überzeugt, wenn ich weitermache, dann hole ich mir die letzten auch noch!
Jetzt bin ich aufgestanden, denn das nächste Gedicht, da spreche ich unterschiedlich einige Zuhörer direkt an. Jetzt kann keiner mehr Weghören.

"Du kannst
die Palmen in meinem Garten
Lila anstreichen und warten,
Bis jemand kommt und sie bewundert,
Und dem verkaufst Du sie für hundert
Oder besser noch zweihundert Mark
Denn lila Palmen sind doch wirklich stark.
Und das ganze Geld gibst Du anschließend aus
Für ein selbst gehäkeltes Schneckenhaus.

Du kannst mit dem Nordwind nach Helgoland fliegen,
Und dort im Scheine des Leuchtturms liegen
Du kannst mit Inbrunst in Nordseewellen
Mit den Seehunden um die Wette bellen.
Du kannst Dir 'ne Pfeife am Nordlicht anzünden
Und alle vier Winde zusammenbinden.
Dann trinkst Du mit ihnen die ganze Nacht Bier
Und seit der Nacht duzen Dich alle vier!

Du kannst mit silbernen Haarschmuck - Spangen
Das Leuchten des Nordlichtes einfach einfangen.
Dann kämmst Du es aus und wickelst es eng
Einer Hollentochter um's Handgelenk.
Seit der Nacht kannst Du unterm Sternenzelt liegen
Und sehen wie die Elfen im Tanze sich wiegen.
Und wenn du es willst, machst Du nur einen Schritt,
Dann tanzt Du mit ihnen den Reigen mit.

Du kannst Dich zum Sonnen vor's Rathaus legen,
Sogar ohne Kleider, ich hätt' nichts dagegen.
Du kannst von der Brücke heruntergucken
Und den Fußgängern auf die Köpfe spucken.
Du kannst die aller verücktesten Sachen
Die Dir einfallen, ganz einfach machen.
Aber eins könnt ihr alle nicht, und das müsst ihr versteh'n:
Ihr könnt mich nicht einfach überseh'n!"

Ja, und damit hatte ich alle! Richtiger lauter Beifall und die Bitte um mehr.
Die leicht aggressive Stimmung war wie weggeblasen. Die einzelnen Wartenden sprachen plötzlich auch miteinander. Alle Gesicherter, aber wirklich alle, zeigten zumindest den Anflug eines Lächelns.
Und ich war froh, dass ich es gewagt hatte, dass ich mich riskiert hatte.
Später lobte mich der Arzt sogar, denn er hatte von einer der Wartenden, einer Pharma-Vertreterin von meinem "Auftritt" erfahren. Die sagte so etwas von "Umschwung" hätte sie während ihres ganzen Berufslebens noch nicht erlebt.

Hier hatte ich auf freudvolle Weise das selbst erlebt, was in den Lehrbüchern oft ganz trocken verkündet wird:
Humor hilft verkrustete Situationen aufzubrechen.
Wo eine Kommunikation gestaut ist, wird so eine Möglichkeit geschaffen, ein öffnendes Gespräch wieder in Gang zu bringen und es weiter fließen zu lassen. Vereinzelt dasitzende "Patienten" schafften es plötzlich ihren Nachbarn wieder wahrzunehmen. Sie erkannten einander und Kommunikation floss wieder untereinander.
Der bekannte Kommunikationsforscher Paul Watzlawick hatte ja verkündet: " Man kann nicht nicht kommunizieren!" Und wenn es dann manchmal doch stockt, dann kann jeder diese Hürde beseitigen.
Und "Jeder" das kannst auch Du sein.
Trau Dich, es lohnt sich!

Don 21. 11. 2015.

Autor:

Klaus-Jürgen Langner aus Spandau

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