70 Jahre Spandauer Volksblatt: Gründerenkel Olaf Lezinsky erinnert sich
Es war schon manchmal etwas sonderbar, als einerseits normaler Jugendlicher und andererseits als einer der wenigen Verlegersprösslinge im West-Berlin der 60er- bis späten 80er-Jahre aufzuwachsen.
Unsere Familie lebte meist ein normales, gutbürgerliches Leben. Gleichzeitig wurde man in der Schule und auch sonst an vielen Orten immer wieder mit dem konfrontiert, was im Spandauer Volksblatt stand oder was das Volksblatt ansonsten betraf. Immerhin war diese Zeitung eine der wenigen freien Pressestimmen in der demokratischen Mauerstadt und prägte in der Havelstadt das tägliche Leben mit.
Schon früh musste ich mich vor Klassenkameraden rechtfertigen, wenn irgendein Eintrag über einen Spandauer Verein oder ein Spielergebnis nicht korrekt wiedergegeben worden war. Selbst dann, wenn ich selber nicht den blassesten Schimmer von dem Thema hatte. Hatte sich ein Familienvater daheim über einen politischen Kommentar im Spavo ausgelassen, so wurde diese Kritik nicht selten von dessen Kindern, meinen Klassenkameraden, an mich herangetragen. Klar, dass man da früh politisiert wurde. Andererseits war es dann aber auch kein schlechtes Gefühl, wenn man eine Druckereibesichtigung inklusive Besteigung der großen Rotationsmaschine und Bestaunen des ratternden Fernschreiberraumes anbieten konnte. Ein bisschen gibt jeder gerne an...
Meine Mutter, die Verlegerin Ingrid Below-Lezinsky, geborene Metzler, lebte frei nach dem Motto: immer ordentlich auf die Spandauer Pauke hauen: „Davon leben wir.“ Und so war sie sich für kein Volksfest und keinen Marktstand zu schade, wenn es darum ging, das Volksblatt zu repräsentieren oder an den Mann und die Frau zu bringen – meinen Stiefvater Joachim Below und meine Brüder Rainer, Lars und ich immer im Schlepptau. Egal ob Staakener Gartenstadtfest, Weihnachtsmarkt oder Spandauer Automeile, ob Presseball, Verlegerkongress oder die von ihr begleiteten Leserreisen nach nah und fern: Sie war überall mit dabei und wir gehörten in unterschiedlicher Besetzung zum Hofstaat.
Mir sind auch noch die zahllosen Fahrten durch Spandau im Gedächtnis, wenn meine Mutter wieder einmal empört oder seufzend auf dieses oder jenes Geschäft zeigte und meinte: „Die schulden uns auch noch Geld.“ Umgekehrt aber auch das beständige Klagen über die hohen Tariflöhne, die kleinen und großen Kämpfe mit dem Betriebsrat und die ständige Unterfinanzierung des kleinen Zeitungsverlags. Es wurde zum Ritual, wenn einmal im Jahr bei den Gesellschafterversammlungen des Erich Lezinsky Verlags der renommierte Wirtschaftsprüfer Dietrich Wolter ausdrücklich feststellen musste, dass eine Überschuldung des Hauses noch nicht vorläge. Lang waren sie her, die goldenen Anfangsjahre nach dem Krieg. Und ohne einen umstrittenen Senatskredit für kleinere Verlage wäre schon früher Schluss gewesen. Kurz vor dem Mauerfall war die Beteiligung eines großen Verlags dann ja auch unvermeidlich.
Promis & Politiker treffen
Als Kinder lernten wir schon früh bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kennen. Bundesminister, Bezirkspolitiker, Regierende Bürgermeister etc. Sie alle gingen zu Interviews im Verlagshaus in der Neuendorfer Straße am „Hafenplatz“ ein und aus und manchmal durften wir Kinder in der großen Vorzeigeetage im obersten Stock – das war die ehemalige Wohnung meiner verstorbenen Großmutter Margarete Lezinsky – Mäuschen spielen oder auch um ein Autogramm bitten. An Hans Dietrich Genschers Besuch kann ich mich noch recht genau erinnern. Auch an Otto Schily, Gerhard Baum oder Richard von Weizsäcker. Mit den Schlagerstars Cindy & Bert konnte ich einmal in einem Wohnwagen bei einer Veranstaltung plaudern.
Und mit dem West-Berliner Verlegerverband ging es einmal im Jahr auf Vereinskaffeefahrt in den „Osten“. Dazu gehörten die Herren des Springer Konzerns, gelegentlich auch die Geschäftsführer des Tagesspiegels und der ehemalige Innensenator und Justiziar des Vereins, der Berliner Zeitungsverleger Wolfgang Büsch. Alle mit Gattinnen und Kindern. Immer dabei auch Christa Kuchta, die getreue Sekretärin meiner Mutter, die mein Großvater als Lehrmädchen eingestellt hatte. Meine Mutter genoss bei diesen Anlässen als einzige echte Verlagseigentümerin und Chefin des kleinsten Hauses einen Sonderstatus als "Mutter der Kompanie" und buk immer Kuchen für diese Busfahrten in den Spreewald oder das Havelland.
Wir durften überall mit und jedem jede Frage stellen. Aber auf korrektes Benehmen wurde streng geachtet! Wenn wir nicht aufsprangen, wenn eine Dame an den Tisch trat, gab es einen Rüffel oder was in die Rippen. Da kannte mein sonst sich vornehm zurückhaltender Stiefvater erfreulicherweise kein Pardon.
Das Verlegerdasein hatte auch durchaus ungewöhnliche Vorteile. Als ich mich ab 1985 bei den Berliner Grünen, der damaligen AL, und bei den Jungdemokraten engagierte, hatten einige Freunde, die das gleiche taten, oft Schwierigkeiten bei der Einreise in die DDR zu Verwandtenbesuchen. Mir widerfuhr dies bei allerlei Besuchen nie. Und selbst wenn meine Mutter die sonderbarsten Dinge (Blumenerde, einen Grabstein) für Verwandte in Stralsund oder Dessau im Kofferraum ihres Mercedes transportierte, gab es an der Grenze nie dumme Fragen. Das Volksblatt war für seine Zustimmung zur Entspannungspolitik auch im Ostteil Deutschlands angesehen und wurde oft zitiert. Als ich noch kurz vor dem Mauerfall einen Kontakt zur Vermarktunsgagentur Interwerbung der DDR knüpfte und vom großen Osthandel träumte, wurden meine Mutter, mein Bruder Rainer und ich sehr zuvorkommend in Meißen und Leipzig empfangen. Unmoralische Angebote wurden nie an uns herangetragen. Die großen Geschäfte kamen aber auch nicht zustande.
Mein damaliges politisches Engagement wurde, genau wie die Revoluzzerphase meines älteren Bruders in den 60er-Jahren von der Verlegerin und vielen Mitarbeitern nicht besonders geschätzt. „Als Verleger solle man neutral bleiben“, hieß es nicht selten im Verlag. Und mein Bruder Rainer wurde gelegentlich schmunzelnd an sein Versprechen von 1968 erinnert, dass er den Verlag den Arbeitern schenken wolle. Man Stiefvater – selber immer SPD-Wähler – hielt es da eher mit Churchill: „Wer mit 20 Jahren kein Sozialist ist, der hat kein Herz. Wer es mit 40 Jahren noch immer ist, hat keinen Verstand.“ Meine Mutter verriet nur sehr ungern, wen sie wählte. Ähnlich im Privaten: Wenn wir Kinder fragten, wen von uns sie am liebsten hätte, nahm sie jeden einzeln beiseite und sagte: „Dich, aber du darfst es den anderen nicht sagen.“ Das mache ich heute bei meinen Kindern auch so.
In der Führungsetage wurde auch schon gerne einmal gebrüllt. Aber anders als in den 50er-Jahren meist nur familienintern. Meine erste Freundin stand einmal völlig verschreckt daneben, als wir uns alle erst furchtbar ereifert und anschließend wieder blitzschnell versöhnt hatten. Wobei man den Begriff Familie in so einem mittelständischen Unternehmen durchaus weit fassen kann: Es waren ja viele Mitarbeiter länger in der Firma als ich damals auf Erden. Hätte man sich da als Junior irgendeine Arroganz herausgenommen, so hätte es vor versammelter Mannschaft unweigerlich Dresche gegeben. „Wer führen will, muss dienen können“, war ein Lieblingszitat meiner Mutter.
Dazu gehörte auch, dass alle drei Söhne schon früh mitarbeiten mussten. Als Schüler stellte ich jahrelang unser Anzeigenblatt, den "Spandauer Anzeiger" im weiträumigen Pichelsdorf zu. Keine leichte Tour mit 1000 Zeitungen! Mehrmals brach mein Fahrrad unter der Last der Zeitungspakete zusammen oder meine Mutter karrte im Kofferraum ihrer Limousine Zeitungsnachschub heran, um mir die An- und Abmarschwege in meinem Verteilgebiet zu erleichtern. Die Damen Wittig, Matthäus und Rekin in der Vertriebsabteilung brachte ich dann ab dem Alter von 15 Jahren in den Ferien regelmäßig zur Verzweiflung, wenn ich die Postgiroeinzahlungsbelege der Abonnenten nicht ordentlich zuordnete und in der Kulturredaktion bei Hagmut Brockmann, Ortrun Egelkraut und Elvira Kühn versuchte man mir später das Artikelschreiben beizubringen.
Plackerei in der Packerei
Prägend waren aber auch die jahrelangen Nachtschichten an der Rotation und in der Packerei in meiner Studentenzeit. Nicht selten ging es davor oder danach ins "Linientreu" oder eine andere bekannte Nightlife-Adresse des West-Berlins der 80er-Jahre. Immer mit gefüllter Kasse, denn Nachtschichten wurden gut bezahlt. Besser als meine Artikel, die ich ebenfalls im eigenen Blatt veröffentlichte. Meine Mutter war dafür berüchtigt, dass sie Zeilenhonorare gern abrundete. So auch bei mir.
Die Einstellung der Tageszeitung 1992 tat der ganzen Familie weh. Wohl am meisten der Verlegerin. Weitergeführt unter dem Dach des Berliner Wochenblatt Verlages wurde das seit den 70er-Jahren sehr erfolgreiche Anzeigenblatt „Spandauer Anzeiger“. Aber man führte die Traditionen zusammen. An die Sitzung, auf der dieses in der Chefetage einstimmig mit den neuen Miteigentümern beschlossen wurde, kann ich mich noch gut erinnern. Der SPAZ hieß von nun an Spandauer Volksblatt und übernahm viele Elemente der alten Tageszeitung. Deshalb ist es auch legitim, von 70 Jahren Spandauer Volksblatt zu sprechen.
Bis heute müssen sich meine Brüder und ich immer wieder dafür rechtfertigen, dass Spandau keine eigene Tageszeitung mehr hat. Das ist verständlich, aber die kaufmännischen Realitäten ließen nichts anderes zu. Wir hatten seit 1970 erlebt, wie gut gemachte kostenlose Wochenblätter immer erfolgreicher wurden. So auch der vom ehemaligen Anzeigenleiter Gerhard Dünnhaupt und meiner Mutter begründete SPAZ. Und so begleitet nun das Spandauer Volksblatt die Geschicke der Havelstadt – trotz und dank des Internets eine der erfolgreichsten Anzeigenblätter Deutschlands. Es macht viel Spaß als Verlagsagentur diese Erfolgsgeschichte begleiten zu können. Olaf Lezinsky, geb. 1962
Alle Beiträge zum Thema "70 Jahre Spandauer Volksblatt" finden Sie hier.
Autor:Manuela Frey aus Charlottenburg |
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