Auf den Spuren der Familie Pieck
Die Recherchen von Svenja Tietz und vier Stolpersteine am Lindenufer
Am Montag, 11. Juli, werden am Lindenufer 29 vier Stolpersteine gesetzt. Sie erinnern an das Ehepaar Alfred und Henriette Pieck sowie ihre Töchter Ilse und Lore.
Dass es zu diesem Gedenken kommt, ist vor allem Svenja Tietz zu verdanken. Die 20-Jährige hat in den vergangenen Jahren die Geschichte der Familie Pieck recherchiert und noch lebende Nachkommen ausfindig machen können. Jackie Shelton, die Tochter von Ilse Pieck, wird sogar mit ihrer Familie zur Stolpersteinverlegung aus den USA anreisen.
Die Nachforschungen von Svenja Tietz bereicherten auch die Ausstellung "Charterflug in die Vergangenheit", die an das Besuchsprogramm des Berliner Senats für einst vertriebene jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnert und im vergangenen Jahr in Spandau zu sehen war. Die Stolpersteine sind eine weitere wichtige Etappe. Außerdem will Svenja Tietz ihre gesamten Ergebnisse in einem Buch veröffentlichen. Die 20-Jährige studiert Geschichte an der Freien Universität. Davor hat sie 2020/21 ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau absolviert. Bei dieser Arbeit stieß sie auf das Schicksal der Familie Pieck.
Aaron Alfred Pieck besaß ein Bekleidungsgeschäft am Spandauer Markt. Es gibt Bilder aus den 1920er-Jahren, die seine Frau Henriette, geborene Kallner und die beiden Mädchen im Stabholzgarten zeigen. Ilse Pieck wurde 1921 geboren, Lore ein gutes Jahr später. Die Piecks führten ein für die Zeit typisches Familienleben, das 1933 endete.
Der Vater wurde zum Verkauf seines Geschäfts gezwungen und die Kinder mussten ihre Schule verlassen. Auch die Wohnung am Lindenufer verloren sie. Trotz dieser Drangsalierungen entschloss sich die Familie nicht zur Emigration, sondern zog laut den Recherchen von Svenja Tietz nach Charlottenburg. Erst nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 sahen die Piecks keine Zukunft mehr in ihrem Land.
Die Mädchen wurden im Frühjahr 1939 auf einen Kindertransport nach England geschickt. Die Eltern folgten ihnen einige Monate später. Im Oktober 1940 kamen sie gemeinsam in die USA. Chicago wurde zur neuen Heimat.
„Die Geschichte der Familie Pieck ist nicht typisch für das Schicksal der meisten Juden in der Zeit des Nationalsozialismus“, sagt Svenja Tietz. „Alle vier haben überlebt.“ Ihr Leben aber hatte sich völlig verändert und mit der Zeit vor 1933 nichts mehr zu tun. Aaron Alfred Pieck, früher selbstständiger Gewerbetreibender, verdiente sein Geld zunächst als Fabrik-, später als Lagerarbeiter. Er habe auch lange seiner alten Heimat und ihrer Kultur nach getrauert, erklärt die Biografin.
Svenja Tietz hat über das "Charterflug"-Projekt Kontakt zur Familie Pieck hergestellt. Die Ausstellung wurde zwar von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Senatskanzlei konzipiert. Für die Präsentation in Spandau ergänzte die Jugendgeschichtswerkstatt sie um Beispiele aus dem Bezirk, was vor allem Svenja Tietz zu verdanken ist. Sie hat sich eingelesen, Archive besucht, Dokumente gesichtet, im Internet nachgeforscht und Angehörige ausfindig gemacht. Die Nachforschungen hätten ihr große Freude bereitet, auch wenn das Beschäftigen mit dem Schicksal von Holocaust-Opfern emotional sehr herausfordernd gewesen sei.
Einen Zugang, speziell zur Familie Pieck, gab es durch die beiden Töchter. Sie waren bei ihrem Kindertransport ungefähr im Alter wie Svenja Tietz bei Beginn ihrer Recherche. Und insgesamt gelte, Menschen, deren Leben aufgeschrieben wird, für die Stolpersteine gesetzt werden, "sind nicht vergessen".
Ilse und Lore Pieck haben sich auf ihre deutsche Herkunft zumindest so weit eingelassen, dass sie irgendwann einen "Charterflug in die Vergangenheit" bestiegen haben. Ihr Leben während der Nazizeit wäre zwar im Familienkreis ein Thema gewesen, erfuhr Svenja Tietz von Jackie Shelton, es habe aber das Leben nicht dominiert. Beide heirateten und bekamen Kinder. Lore Pieck ist später nach Israel gezogen und hat sich nicht erst dort sehr bewusst zur jüdischen Religion bekannt. Sie starb bereits 1989. Ilse Pieck sei weniger religiös gewesen. Sie starb 2008 in San Francisco.
Welche Eindrücke die Schwestern bei ihren Besuchen in Spandau einst bekommen haben, ist eine Frage, die noch nicht beantwortet wurde. Vielleicht lässt sich das am 11. Juli klären. Auf jeden Fall können die angereisten Angehörigen von ihren Erlebnissen in der Heimat ihrer Vorfahren berichten. Die Stolpersteinverlegung beginnt um 15 Uhr.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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