„Es ist eine andere Welt“
Im Lerncafé pauken funktionale Analphabeten das Lesen und Schreiben
In Spandau soll es rund 20.000 Menschen geben, die nicht richtig lesen und schreiben können. In Einrichtungen wie dem Lerncafé, ein Projekt der Gesellschaft für Interkulturelles Zusammenleben (GIZ), werden Betroffene darin unterrichtet, aus ihrem Schattendasein hervorzutreten, um die beiden Kulturtechniken zu erlernen oder zu verbessern.
Es braucht eine Menge Mut, mit eigener Kraft „diese andere Welt“ zu verlassen. „Man verzichtet auf so vieles wie Mopedfahren oder den Führerschein und hat natürlich auch kulturelle, gesellschaftliche Einbußen“, erklärt Klaus. Als bei der Deutschen Bahn gelernter Gleisbauer konnte der Mann mittleren Alters seine Lese- und Schreibschwäche jahrelang verbergen. „Man verfügt zwar über ein gewisses Trick-Repertoire wie beispielsweise den Vorwand, die Brille vergessen zu haben. Defizite vermuten würde da niemand. Man lebt aber in einer anderen Welt, wenn man nicht schreiben und lesen kann“, bedauert er.
Nur ein Prozent der Analphabeten nutzt Angebote
Klaus ist einer von rund 20.000 in Spandau lebenden funktionalen Analphabeten. Sie haben zwar Lesen und Schreiben gelernt, beherrschen diese Techniken aber nicht ausreichend. „Es ist eine große Herausforderung, denn nur rund ein Prozent dieser Menschen kommen in Lernangeboten auch an“, erklärt Lerncafé-Projektkoordinatorin Susanne Angulo.
Klaus ist einer der Willigen. Seit der Eröffnung vor zwei Jahren ist er dabei. „Aber diesen Schritt in die Öffentlichkeit muss man erst mal wagen“, sagt Klaus, dessen jahrelanges Dasein als funktionaler Analphabet von Furcht, Angst vor Blamage oder Enttäuschung geprägt war. Diesem hat er ein Ende gesetzt und im Lerncafé Spandau eine hilfreiche Anlaufstelle gefunden, zum Verbessern seiner Lese- und Schreibfähigkeiten und zum Austausch unter Gleichgesinnten. Nun geht er „ganz anders durch das Leben, wenn er lesen und das Gelesene auch begreifen kann“.
"Wir wollen keine schulische Atmosphäre"
Lerngruppen finden von Montag bis Freitag jeweils am Vormittag statt. An jedem Dienstag und Donnerstag unterrichtet Projektkoordinatorin Angulo eine heterogene Gruppe mit bis zu zehn Lerneifrigen. „Die Lernenden im Lerncafé sind zwischen 18 und über 60 Jahren alt, etwa zur Hälfte deutsche Muttersprachler und zur Hälfte Nicht-Muttersprachler. Die Mehrheit hat keinen Schulabschluss und nur wenige sind berufstätig“, so Angulo. Ihr ist es wichtig, keine schulische Atmosphäre in den Kursen zu schaffen. „Das gesellige Zusammensein bei Obst, Tee und Kuchen, unser Zusammenhalt, der Austausch untereinander und eine individuelle Lernvermittlung spielen hier eine große Rolle“, erklärt sie. Der Einstieg in Kurse ist jederzeit möglich. Mit offenem Ende, denn: „Es ist ein langer, altersbedingter und durch berufliche oder soziale Umstände oft verzögerter Prozess, Lesen und Schreiben richtig zu lernen. Kontinuierliches Lernen ist wichtig.“, sagt Angulo.
Zusätzlich zum Angebot des Lerncafés wirken sich begleitende Maßnahmen wie die soziale Beratung und Hilfestellungen bei Behördengängen und Wegen zu anderen Institutionen positiv aus und werden ebenso beim GIZ angeboten. „Verbraucherrechtliche Angelegenheiten wie Verträge mit Handy- oder Stromanbietern stellen oft eine große Herausforderung für funktionale Analphabeten dar. Da ist Hilfe zur Sicherheit unserer Kursteilnehmer vonnöten“, weiß Angulo.
Am 8. September findet der Welt-Alphabetisierungstag statt. Auch das Spandauer Lerncafé wird sich mit Aktionen daran beteiligen.
Weitere Informationen zu den Alphabetisierungskursen und allen weiteren Angeboten der GIZ gibt es unter https://giz.berlin und 513 01 00.
Autor:Mia Bavandi aus Reinickendorf |
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