"Wir sind eine Familie"
Jutta Damaschke hat ein ganz besonderes Kind
Als Julian fünf Jahre alt war, bekam er die Autismus-Diagnose. Seitdem weiß Jutta Damaschke: Ihr Sohn ist ein ganz besonderes Kind.
Der Zeiger rückt auf Mittag vor. Bald kommt Julian nach Hause. Allein mit dem Bus. „Das haben wir schrittweise geübt“, sagt Jutta Damaschke. „Ich bin sehr stolz auf ihn.“ Julian ist 17 und Autist. Seit dem Sommer arbeitet der Teenager in den Stephanus-Werkstätten im Evangelischen Johannesstift. Er füttert die Kaninchen, gießt die Blumen, verpackt Postkarten. Gegen eins ist er wieder daheim, isst kurz was, meist Obst und Gemüse. Dann zieht sich Julian gern in sein Zimmer zurück, schläft oder hört Musik. Von seinem Tag erzählt er oft erst beim Abendbrot. Manchmal mehr, manchmal weniger. Zwischendurch läuft er in sein Zimmer, weil ihm etwas eingefallen ist. Dann dauert das gemeinsame Abendessen schon mal über eine Stunde. Spätestens um 23 Uhr geht Julian ins Bett, bis ihn seine Mutter am nächsten Morgen wieder weckt. Die tägliche Routine hat ihr Gutes. „Sie gibt ihm Sicherheit“, weiß Jutta Damaschke.
Julian wurde am 3. Oktober 2001 geboren. Die Geburt verlief normal. „Er war ein gesundes Baby“, sagt Jutta Damaschke. Und er flatterte gern mit den Händen. „Das fand ich lustig.“ Aber Julian schrie auch viel, wollte partout nicht in seinem Bettchen schlafen und beruhigte sich erst, wenn ihn seine Mutter in den Arm nahm. Dazu trank er schlecht. „Heute weiß ich, dass ihm das einfach zu anstrengend war.“
Je älter Julian wurde, desto mehr merkte Jutta Damaschke, dass ihr Sohn anders ist als andere Kinder. Er krabbelte nicht, er lernte nicht laufen und sprach kaum. Im Kindergarten blieb er lieber für sich, verhielt sich passiv, war unkonzentriert und schnell überlastet. „Anfangs dachte ich, es liegt an mir, ich mache etwas falsch. Er war ja mein erstes Kind“, sagt Jutta Damaschke. Doch bei jeder Vorsorgeuntersuchung wurde es deutlicher: Ihr Sohn blieb in der Entwicklung zurück. Irgendwann empfahl eine Erzieherin, sich an den Fachverband „Autismus Deutschland“ zu wenden und Julian einem Experten vorzustellen. Das tat die Spandauerin. Im Sommer 2006 bekam der fünfjährige Julian dann die Diagnose: autistische Störung.
Jutta Damaschke hatte vorher noch nie etwas damit zu tun. „Ich kannte gerade mal das Wort.“ Sie fand schnell heraus: Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung. Autisten verhalten sich deshalb anders als andere Kinder, für Fremde unerwartet und oft irritierend. Denn die Gefühlswelt von Autisten ist mit den Emotionen anderer Menschen nicht vergleichbar. Was Mimik und Gestik bedeuten, müssen Autisten oft mühevoll erlernen. Und es fällt ihnen schwer, zu verstehen, was andere Menschen mit dem meinen, was sie sagen. Alles was neu ist, ist ein Rätsel für sie. Besonders schwierig wird es für autistische Kinder, wenn zum Ungewohnten die Unüberschaubarkeit und ein hohe Geräuschpegel dazukommen, zum Beispiel in einem Einkaufszentrum. Denn ihre sinnliche Wahrnehmung ist oft viel stärker ausgeprägt, Reize kommen ungefiltert bei ihnen an.
Als sie all das las, war Jutta Damaschke erleichtert. „Endlich konnte ich etwas tun, und ich verstand, dass Julian die Welt auf seine ganz eigene Art und Weise sieht.“ Und sie wusste, warum er feste Abläufe brauchte, fürs Essen, fürs Spielen, fürs Schlafen. Warum er nicht gern in die Schule ging, sich die Ohren zuhielt und schrie, wenn er sich überfordert fühlte. Warum er sich schwer auf neue Situationen einlassen konnte und manchmal aggressiv wurde. Vor allem aber wusste sie: Julian ist ein ganz besonderes Kind.
Bis heute verbindet beide eine starke emotionale Beziehung. „Er ist ein toller Junge, liebenswert und mit viel Wortwitz. Meine Freundin nannte er mal eine wunderschöne Hochzeitsrose“, erzählt die 49-Jährige. „Und er kommt zu mir, wenn er Sorgen hat. Denn er weiß, wir halten zusammen.“
Jutta Damaschke ist die feste Konstante im Leben ihres Sohnes. Stark gemacht aber haben sie vor allem all die kleinen und größeren Hindernisse, die sie aus dem Weg räumen musste. „Ich kann nur allen Eltern Mut machen, diesen Weg mit ihrem Kind zu gehen.“
Eine Auszeit nimmt sich die humorvolle Spandauerin beim Singen im Chor oder wenn sie sich mit einer Freundin trifft. Mitleid will die Mutter auf keinen Fall. Vielmehr wünscht sie sich ehrliches Interesse und Unterstützung, „dass man nicht urteilt, sondern fragt.“
Als Julian 15 Jahre alt war, riet der Jugendpsychiatrische Dienst, ihn in zwei Monate in eine Psychiatrie zu geben und danach ins betreute Wohnen. Seine damalige Schule hatte ihn wegen eines aggressiven Aussetzers vom Unterricht suspendiert. Jutta Damaschke hat für ihren Sohn gekämpft, er konnte bei ihr bleiben. „Betroffenen Eltern kann ich nur raten, auf sich selbst zu hören, jedes mögliche Mittel auszuschöpfen, denn niemand kennt sein Kind so gut wie eine Mutter.“
Natürlich ändern sich mit der Zeit auch die Herausforderungen, sagt sie. Ihr Sohn ist jetzt in der Pubertät. „Aber man wächst in diese Rolle hinein.“ Und natürlich merke auch Julian, dass er anders sei. Aber sie hat gelernt, damit umzugehen, erwünschtes Verhalten bei ihrem Sohn zu verstärken und unerwünschtes zu ignorieren. Und vielleicht findet Julian ja irgendwann eine passende Partnerin. Das würde sich Jutta Damaschke für ihn wünschen.
Bis dahin wartet sie jeden Mittag darauf, dass Julian nach Hause kommt, in die gemütliche Wohnung im Perwenitzer Weg. Dort hängt im Wohnzimmer die wichtigste Regel: „Wir sind eine Familie“.
Autor:Ulrike Kiefert aus Mitte |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.