Wie Ödipus ins Gefängnis kommt
Theateraufführung an einem ungewöhnlichen Ort
Der Weg zur Vorstellung führt über mehrere Schleusen und Kontrollen. Vor dem Betreten müssen Handys, Geldbeutel, Schlüssel sogar Zigarettenschachteln und Bonbons in Schließfächern verstaut werden.
Es geht durch große Innenhöfe, vorbei an markanten Backsteinbauten. Aus deren Fenstern kommen Rufe. "Ihr seht aus wie auf Wandertag", brüllt jemand. "Ich will hier raus" ein anderer. "Viel Spaß" wünscht ebenfalls eine Person hinter vergittertem Glas.
Das Ziel ist ein Gebäude in für dieses Areal typischer Architektur. Treppen, die in der Mitte in freiem Raum über mehrere Etagen nach oben führen. Darunter Netze. Links und rechts Gänge mit Zellentüren. Dahinter sind in diesem Trakt aber keine Häftlinge untergebracht, sie beherbergen das Arbeitsamt, den psychiatrischen Dienst, dienen als Lager oder Warteraum. Und bis zum 12. November sind sie die Kulisse für eine Theateraufführung.
Es gibt in Berlin viele ungewöhnliche Orte für Bühnenspektakel. Die Justizvollzugsanstalt Tegel ist der vielleicht ungewöhnlichste. Dabei hat er eine lange Tradition. Schon seit Jahrzehnten machen Gefangene dort Theater. Auch das aktuelle Ensemble besteht aus vielen Akteuren, die schon länger mit dabei sind. Und aus manchen Talenten.
Corona hat die diesjährige Neuinszenierung nicht gerade erleichtert. Aber sie konnte am 27. Oktober stattfinden. Einen Tag zuvor gab es die Generalprobe mit, rund 25, so am Eingang formuliert, "Zivilisten und Journalisten".
Prophezeihung und Schuld
Angeleitet vom (externen) Regisseur Peter Atanassow und seinem Team vom aufBruch Gefängnistheater war "Ödipus, Tyrann" einstudiert worden. Der griechische Mythos über jenen König Ödipus, der schwört, den Mord an seinem Vorgänger aufzuklären und nicht ahnt, dass er selbst der Mörder ist. Der Stoff hat über Jahrtausende Dichter fasziniert und zu Interpretationen angeregt. Das Gefängnistheater orientierte sich an der Vorlage von Heiner Müller, die wiederum größtenteils auf dem Vorläufer von Friedrich Hölderlin basiert. Eingebaut waren aber auch eigene Elemente, etwa in Form von Liedgut: von Strophen aus "Der Mond ist aufgegangen" bis zur deutschen Version des Edith-Piaf-Chansons "Je ne regrette rien".
Die Ödipus-Saga ist vor allem deshalb noch immer aktuell, weil sie viele Menschheitsfragen durchdekliniert: von der selbst erfüllenden Prophezeiung über die eigene Bestimmung bis zur Schuld. Gerade letzteres war im Zusammenhang mit dem Ort und den Darstellern nicht unwichtig. Schuld sei ein Thema, bei dem sie sich hier auskennen würden, meint einer von ihnen im anschließenden Gespräch.
Um die Bedeutung im Heute noch mehr herauszustreichen wurden dem Ödipus-Komplex zunächst einige Szenen des absurden Dramatikers Eugène Ionesco vorangestellt. Deren Inhalt ist eine seltsame Krankheit, die sich durch eine Gesellschaft frisst, Hierarchien und Beziehungen zerstört. Auch hier verbunden mit der Frage, wer dafür die Verantwortung trägt. Und was passiert, wenn sich jemand aus dieser Katastrophe zum Tyrann erhebt? Ähnlichkeiten mit der noch immer vorherrschenden Pandemielage waren nicht zufällig.
Ein besonderer Teamgeist
Es war ein weites Feld, das in den gut 90 Minuten Theater in Tegel präsentiert wurde. Nicht weniger interessant waren die anschließenden Werkstattberichte. Für das Projekt wäre sieben Wochen an fünf Wochentagen täglich dreieinhalb Stunden gearbeitet worden, berichtete Regisseur Atanassow. Vor den Proben werden die Häftlinge zum Mitmachen aufgerufen. 70, 80 würden zunächst Interesse bekunden. Zu den ersten Terminen kämen dann in der Regel um die 30. Der harte Kern bestehe aus ungefähr 15. Bei "Ödipus" agierten zwölf Männer. Nur einer war zum ersten Mal mit dabei. Die meisten waren mittleren Alters, der Älteste 72. Der Regisseur habe die Rollen optimal besetzt, lobten seine Schauspieler. Auch der Titelheld habe absolut gepasst. Aber nur als Figur, stellte der klar.
Theaterspielen bedeute einen zusätzlichen Aufwand neben der sonstigen Alltagsarbeit, stellten die Herren ebenfalls heraus. Aber es herrsche ein besonderer Teamgeist, sagte einer mit Analogie aus dem Fußball.
Nach dem Gespräch wurde noch einmal deutlich, dass es sich dabei nicht um eine x-beliebige Aufführung handelte. Zunächst wurden die Darsteller herausgeführt, danach folgte das Publikum. Der Weg geht wieder zurück durch die Innenhöfe und entlang der Backsteinbauten. "Bei mir bekommt ihr mehr Theater", ruft jetzt jemand aus einem vergitterten Fenster.
"Ödipus, Tyrann" wird wieder vom 3. bis 5. und 10. bis 12. November in der JVA Tegel gespielt. Beginn ist jeweils um 18 Uhr, der letzte Einlass erfolgt um 17.30 Uhr. Die Karten kosten 15, ermäßigt zehn Euro. Es gibt sie nur im Vorverkauf unter shop.gefaengnistheater.de oder an der Kasse der Volksbühne, ¿24 06 57 77. Der Zutritt ist nur für geimpfte oder genesene Personen möglich. Weiteres auch unter www.gefaegnistheater.de.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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