Flott und mit Temperament
Einblicke in den Lebensalltag gehörloser Berliner
Dieter Kreuter ist nur auf einem Ohr schwerhörig. Um mit seinen gehörlosen Eltern kommunizieren zu können, musste der heute 74-Jährige jedoch schon als Kind die Gebärdensprache lernen. Seit zehn Jahren engagiert er sich in der Gehörlosengruppe, die beim Bezirksamt angesiedelt ist.
Am 22. Januar 1974 wurde der Gehörlosen-Seniorenclub als erster in Berlin gegründet. Zum 45-jährigen Bestehen gab es eine Jubiläumsfeier in der Freizeitstätte „Mireille Mathieu“ in der Boelckestraße 102. „Wir sind dem Bezirksamt dankbar, dass wir hier unsere Heimstätte haben“, sagt Kreuter. Die Gruppe, die aus 30 Mitgliedern besteht, kommt jeden Donnerstag von 13 bis 19 Uhr zusammen, vor allem, um sich auszutauschen. „Klatsch und Tratsch gehören dazu“, erzählt Dieter Kreuter. Von ihren Mitgliedsbeiträgen organisieren sie jeden Monat eine Veranstaltung, darunter auch mal eine Dampferfahrt auf dem Müggelsee oder eine Spargelfahrt nach Kremmen.
Allerdings gibt es auch ernste Themen. So helfen sich die Gehörlosen, wenn sie Fragen zu Versicherungen oder Formularen haben. Eine Dame beschäftigte bei unserem Besuch gerade die Anschaffung einer Funk-Signalanlage, die mit Lichtblitzen und Vibration vor Feuer in der Wohnung warnt.
So etwas ist bei Weitem nicht die einzige Herausforderung im Alltag. Zum Telefonieren gab es bis in die 90er-Jahre hinein noch sogenannte Schreibtelefone, die anstelle von Sprechlauten Schriftzeichen übermittelten. Heute nutzen Gehörlose zum Kommunizieren vor allem SMS und WhatsApp. Beim Fernsehen sind sie auf Untertitel angewiesen. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern lassen diese sich über den Videotext zuschalten. Inzwischen machen auch einige Privatsender mit. „Manche bieten Untertitel jedoch nur zur Primetime an“, sagt Dieter Kreuter. Wer zu anderen Tageszeiten fernsehen möchte, habe oft Pech. Ein Besuch im Kino sei nur möglich, wenn dort Originalfassungen mit deutschen Untertiteln gezeigt werden. Bei anderen Kulturangeboten wie Theatervorführungen bleiben Gehörlose meist außen vor. Nicht so einfach gestaltet sich auch das Autofahren. Da akustische Warnsignale nicht wahrgenommen werden, müssen Gehörlose stets sehr aufmerksam beobachten. Klingelt jemand, erfahren sie dies über ein Lichtsignal.
Ein weiteres Problem sind Gerichtsverhandlungen. Als allgemein beeidigter Gebärdensprachen-Dolmetscher für die Berliner Gerichte und Notare ist Dieter Kreuter darin Experte. Seit 1966 wird er angefordert und übersetzt, wenn Gehörlose auf der Anklagebank sitzen oder als Zeugen aussagen. Im Beruf haben gehörlose Menschen laut Kreuter meist mit handwerklichen Tätigkeiten zu tun, bei denen wenig kommuniziert werden muss. Die Männer und Frauen aus der Seniorengruppe waren früher Tischler, Buchbinder, Zahntechniker, Mechaniker, Schlosser, Schneider oder Reinigungskraft. Weil sie nicht über einen so umfangreichen Wortschatz wie Normalhörende verfügen, würden Gehörlose untereinander meist mit kurzen und prägnanten Sätzen kommunizieren, erklärt Kreuter. In der Gebärdensprache gibt es sogar je nach Region Unterschiede. So werden in Dialekten wie Bayerisch oder Sächsisch viele Worte anders dargestellt. Auf die Frage, was die Berliner Eigenheiten in der Gebärdensprache seien, sagt er: „Die Berliner sind flotter. Da ist Stimmung drin – und Temperament.“
Die Gruppe, deren Durchschnittsalter bei 81 Jahren liegt, wünscht sich Zuwachs. Beitreten können Gehörlose ab 50. Kontakt zur Seniorenfreizeitstätte „Mireille Mathieu“ unter Telefon 74 74 97 00.
Autor:Philipp Hartmann aus Köpenick |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.