Seit Ende der Kältesaison flüchten sich Obdachlose in den Tiergarten
Tiergarten. Fast alle der rund 700 Berliner Notübernachtungsplätze für Obdachlose schließen zum Frühling. Warum der Große Tiergarten jetzt wieder zu den beliebtesten Schlaforten zählt, verrät ein Mann, der lange genug dort lebte. Er führte eine Gruppe der Berliner Stadtmission ins Unterholz.
Ein Eichhörnchen linst furchtsam vom Baumstamm herab, kopfüber verkrallt in der grauen Rinde. Es sind Menschen vorgedrungen ins Reich der Tiere. Einer zeigt den anderen, wo es sich im Schoß der Natur schlafen lässt. Wo Berliner hausen, wenn sie kein Beton mehr umgibt. Das Laub des letzten Herbstes raschelt unter Guido Brücks Sohlen, als er seinen Begleitern die beiden Vorzüge des Großen Tiergartens vor Augen führt: Er ist weitläufig genug, um sich darin zu verbergen. Und nah genug an den helfenden Händen der Zivilisation. Brück kennt sich hier aus. Denn sechs Jahre lang hatte er im Großen Tiergarten ein Bett aus Moos, schreckte bei Vollmond auf, wenn die Mäuse fiepsten. Sechs Jahre sollte es dauern, um fortzukommen vom Misstrauen, vom Wunsch, es allein zu schaffen. Und vom Suff. „Ich war zu stolz, um mir helfen zu lassen“, heißt die Erkenntis des Ex-Obdachlosen. 2002 endete die gefährlichste Zeit seines Lebens. Heute geht es dem Geläuterten so gut wie selten zuvor, trotz Schlaganfällen und Lungenkrankheit.
„Die Stadtmission ist jetzt meine Familie“
In seinen schlimmsten Zeiten trank der 60-Jährige zwei Sechserpacks Bier und spülte mit Hochprozentigem nach. Jeden Tag. Jetzt besitzt er Kontrolle über das, was ihn beherrschte. „Ich habe Freunde, einen Job und eine Tür, die hinter mir zugeht“, sagt der frühere Bauarbeiter. Nun verdingt sich Brück als Mitarbeiter der Berliner Stadtmission. Er hat die Seiten gewechselt, hilft denen, deren Erlösung aus dem Elend in der Zukunft liegt. Und zeigt Sponsoren wie der Gasag, wie die ärmsten Berliner leben. „Die Stadtmission ist jetzt meine Familie“, bedankt sich Brück für die Hilfe zurück ins geregelte Leben.
Doch die Stadtmission kann im Sommer nicht mehr die schützende Hand über die Obdachlosen halten, wie sie es im Winter kann. Denn mit Ende der Notübernachtungssaison Ende März lief die entsprechende Unterstützung des Senats planmäßig aus. Nun ist es nicht mehr kalt genug, um die Ärmsten vor dem Erfrieren bewahren zu müssen. Kalt ist nun das sozialpolitische Klima, beklagt Stadtmission-Specherin Ortrud Wohlwend. 300 Schlafplätze der Mission fallen bis zum nächsten Winter weg, obwohl sie in dieser Saison 48 000 Übernachtungen zählte. Besonders viele. „Es ist, als wenn ein Pferd, das im Winter galoppiert, im Sommer nur noch trabt“, bedauert Wohlwend die Machtlosigkeit der Helfer. Saisonarbeit ist ein Schicksal, das alle Berliner Kältehilfeträger eint. Woran es in der Hauptstadt fehlt? An Geld, an sozialpädagogischer Begleitung für die oft Suchtkranken und psychisch Labilen. An ganzjähriger Fürsorge. Erst recht fehle es an kostengünstigen Einraumwohnungen. Die eine Tür, die sich hinter den Leidgeprüften schließt, gibt es nur noch für viel Geld.
Anstehen und betteln
Deshalb also: schlafen im Tiergarten. Vom guten Leben träumen unter ergrünenden Eichen. „Einmal haben mich die anderen nachts überfallen und mir die Nase zertrümmert“, erinnert sich Brück an seine schlimmste Stunde. Das Blut wusch der Attackierte ab in den sauberen Wassern des Parks. Warum er in den 90ern aus seiner Wohnung flog? Seine Freundin hielt ihn nicht aus im Suff. Brück, der aus Gropiusstadt stammt wie die Buchautorin Christiane F., zog es zum Zoo, wo die Handlung ihres berühmten Buchs spielt. Dort hieß es: Dreimal die Woche anstehen vor der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten. Dann betteln am Breitscheidplatz. Zweimal im Monat duschen in der City Station an der Joachim-Friedrich-Straße. Damals gab es das kostenlose Hygienecenter am Zoo noch nicht. Und die 50 Pfennig Duschgeld sparte Brück lieber für den Schnaps.
Das Kantholz – eine Flasche Korn in flacher, kubischer Form – war die wichtigste Mahlzeit des Tages. Und wenn Brück zu spät zur Bahnhofsmission torkelte, hieß es hungern. Ob er verstehen kann, dass im Winter Obdachlose im Tiergarten Schwäne geschlachtet und gegessen haben?
Die Wut bleibt
„Ich habe mir öfter mal überlegt, eine Ente zu erlegen, habe es aber letztlich nie gemacht.“ Damals, vor 15 Jahren, sei das Gerangel um Almosen noch nicht so hart gewesen. Wie es heute ist, erzählen Obdachlose, die er in der „Komm und sieh“-Boutique in der Lerther Straße frisch einkleidet.
Der Garderobenchef weiß, wovon die Bittsteller sprechen. Aber anders als früher sind sie wählerisch, fragen nach Sportklamotten von Puma, Nike und Adidas. Manchmal sehr fordernd. Der Wunsch nach Geltung geht seltsame Wege. Es braucht Nachsicht, um als Helfer nicht wütend zu werden. Auf die Armen und das ausbaufähige System. Unter den Eichen des Tiergartens schläft es sich auch in Markenkleidung schlecht mit leerem Magen. tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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