Führung über Friedhof: Grabsteine erzählen Geschichten
Auf einer Wiese, bewachsen mit Frühblühern, denen ein kühler Wind die Köpfchen schüttelt, steht ein Pfahl. Er hat dem Betrachter nur das eine zu sagen, nur einen Spruch in griechischer Sprache: "Keitai" - "Ich schlafe." Georg Heym wird nicht erwachen, nicht mehr in dieser Welt. Und er wollte, dass man an seinem Grab davon lesen wird, verfügte es im unheimlichen Vorwissen, dass er bald dahinscheiden müsse. Aus Heym wäre wohl ein glänzender Lyriker geworden, hätte er nicht im Jahre 1912 im eisigen Wasser den Kampf mit der Kälte verloren. Beim Versuch, einen Freund aus dem See mit brüchigem Eis zu fischen, musste der 24-Jährige sein Leben lassen. Was blieb, ist ein "Keitai".
An Heyms Grab werden die meisten Besucher des Luisenkirchhofs III verständnislos vorübergehen - es sei denn, sie stehen dort mit Debora Paffen. Als Kennerin der Lebenswege wandelt die Zehlendorferin an diesem Tag unter Westends Toten, weiß ihrer Gruppe vom Widerwillen Heyms zu berichten, den seine Eltern zwangen, Jura zu pauken, entgegen seinen poetischen Neigungen. "Es ist ein Vollstopfen wie bei der Mast", zitiert Paffen den unglückseligen Dichter.
Kurz darauf geht sie strammen Schritts davon, ordnet ihre Notizen im Gehen, läuft vorbei an Grabsteinen, deren Widmung die Zeit verwusch. Entlang von Tafeln, an denen der frische Schmerz die Angehörigen knien lässt, wo die Tränen rinnen.
An Paffens Eile lässt sich ermessen, dass es sich bei diesen 120 000 Quadratmetern um ein beträchtliches Feld der Toten handelt. Und die Geschichten von medizinischen Pionieren und Musikern, die ihre Noten in Stein meißeln ließen, sie sind zu schade, ungehört zu bleiben.
Da ruht Elke Wehr, Autorin und Liebende. Eine Frau, die ihrem brasilianischen Gespielen vergeblich hinterher reiste, aus Enttäuschung seine Sprache erlernte und die größten Autoren des Erdteils ins Deutsche übertrug. Javier Marias "Mein Herz so weiß" verkaufte sich in Deutsch eine Million Mal. Und doch, so meint man an ihrem Grab zu spüren, ging es immer nur um jenen Brasilianer.
Da liegt der Architekt Hans Grisebach, Erbauer des U-Bahnhofs Schlesisches Tor und Max Liebermanns Haus am Brandenburger Tor. 1904 verstorben, ruht er unter prächtigem Mosaikschmuck an der Seite seines Sohns. Elf Jahre war Edward alt, als das Drama geschah. "Er wollte seiner Schwester zeigen, wie sich der Ritter in einem Roman, den er las, das Leben nahm", erzählt Paffen. Edward hatte nur einen Spielzeugdolch zur Hand. Aber für eine tödliche Verletzung genügte auch der.
So mischen sich alte Tragödien mit neueren Schicksalen. Ständig erweitert Paffen ihre Kartei, pflegt im Ruhestand ihre Leidenschaft, Geschichten anhand von Grabsteinen zu erzählen.
Schließlich gibt es Lebenswege, mit denen fast jeder in Berührung kam. In August Aschingers Restaurants haben Generationen von Berlinern günstig gespeist. Als elftes und zwölftes Kind einer süddeutschen Familie verwirklichten August und sein Bruder Karl, der eine Koch, der andere Kellner, eine Idee. "Beste Qualität zum billigsten Preis" - das war das Motto ihres Restaurants. Bald entstanden 40 Filialen, alle verziert im bayrischen Blau-Weiß. Der soziale Gedanke zählte nicht mehr, als die Lokale in Ost-Berlin enteignet wurden. Und im Westen lief es ähnlich - "wegen überhöhter Mieten". 1976 schloss das letzte "Aschinger" am Bahnhof Zoo. Die Mieten, sie waren immer schon ein Thema. Paffen kennt viele, die darüber nicht mehr klagen werden. Nicht in dieser Welt.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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