Annemarie Webers Roman "Westend" wiederentdeckt

Westend. Als die Sowjetsoldaten Berlin eroberten, hatte Fräulein Elsa Lewinsky die Sieger als zartfühlende Vergewaltiger und schlechte Sänger erlebt. Viele Frauen hatten vielleicht umgekehrte Eindrücke sammeln müssen, aber Elsa Lewinsky ist ja auch nur eine Romanfigur in Else Webers neu aufgelegtem Roman "Westend", der das Leben im Umfeld der Soorstraße von den letzten Kriegstagen bis in die ersten Nachkriegsjahre beschreibt.

Obwohl Eckdaten mit der Biografie der Autorin übereinstimmen, ist noch lange nicht gesagt, dass sie das Geschehen tatsächlich so erlebt, denn auch einzelne Beschreibungen des Kampfgeschehens stimmen nicht mit dem überein, was die Historiker berichten. Von solcher literarischen Freiheit macht die Autorin auch bei einzelnen örtlichen Beschreibungen, die neben realen Namen bisweilen auch völlig fiktive Bezeichnungen erhalten, Gebrauch. Dennoch gibt der Roman in unspektakulär lakonischen Beschreibungen dramatische Geschehnisse wieder, die für den heutigen Leser ein unvorstellbares Ausmaß haben. So wird ein damaliges Einkaufsvergnügen beschreiben, als die Heldin eine ältere Nachbarin zum Bäcker begleitete. Beim Überqueren der Straße mussten sie blitzschnell Deckung suchen, weil über ihre Köpfe hinweg die Geschosse pfiffen. Beträchtliches Ausmaß nimmt in dem Buch die Freude über eine Tür ein, die fast unmöglich zu beschaffen und zu transportieren war, aber erst die Intimität in einem zerstörten Haus sicherte.In diese Geschehnisse ist eine Liebesgeschichte gebettet. Die Heldin erwartet sehnsüchtig ihren Bräutigam zurück, von dem sie nur weiß, dass er vermutlich in französische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Sie schreibt ihm von ihrem Befinden, von ihrer Sehnsucht und auch ausgewählten Ereignissen im besetzten Berlin. Diese Briefe schickt sie mangels einer Adresse nie ab. Sie geben aber dem Roman die Struktur, denn der Bericht des Erzählers über das Schicksal der Heldin wird immer wieder durch die Briefe unterbrochen, die das Geschehen subjektiv interpretieren, so wie es die Heldin vor sich selbst rechtfertigt und es auch ihrem Bräutigam Glauben machen will.

Das Buch endet mit der Heimkehr des Bräutigams. Er will der in dieser harten Zeit selbstbewusst gewordenen Frau Zügel anlegen, was zur Folge hat, dass er die Briefe nie zu lesen bekommen wird und Fräulein Elsa Lewinsky ihren Weg in das Leben des Nachkriegswestberlin weiterhin allein beschreiten wird.

Als der Roman 1966 erstmals erschien, war Annemarie Weber bereits Literaturpreisträgerin. Für ihren ersten Roman "Korso" erhielt den Preis "Junge Generation der Stadt Berlin". Es sollten noch weitere Romane und ein erotischer Ratgeber folgen. 1951 hatte sie ihre ersten Kurzgeschichten veröffentlicht. Von 1953 bis 1955 war die Autorin Redakteurin der Berliner Morgenpost.

Annemarie Weber "Westend", Berlin 2012. 19,90 Euro. ISBN 978-3-932338-52-6.
Frank Wecker / FW
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Lokalredaktion aus Mitte

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