Das kurze Leben des Wladimir Odinzow
Eine Stele für den bisher letzten bekannt gewordenen Mauertoten

Zur Einweihung der Stele kamen auch Professsorin Ulrike Liedtke (SPD), Präsidentin des Landtags von Brandenburg, und Ralf Wieland (SPD), Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. | Foto:  Thomas Frey
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Am 11. August wurde an der Wilhelmstraße, vis-à-vis der Kreuzung zur Straße nach Seeburg, eine Gedenkstele enthüllt. Sie erinnert an Wladimir Iwanowitsch Odinzow, bei seinem Tod erst 18 Jahre alt.

Wladimir Odinzow wird als 140. und bisher letzter bekannt gewordener Toter der Berliner Mauer gezählt. Dass auch er Opfer der 28 Jahre bestehenden Grenzsperre geworden war, wurde erst 2017 festgestellt. Gestorben ist er am 2. Februar 1979, mehr als zehn Jahre vor dem Fall des Betonwalls. Die Stelle, wo jetzt die Stele steht, ist auch nicht der Ort, an dem er erschossen wurde. Der befand sich etwa zwei Kilometer weiter westlich in Seeburg.

Trotzdem gilt Wladimir Odinzow als Maueropfer. Denn ohne die todbringende Grenze wäre er nicht umgekommen. Auch wenn einiges an seiner Geschichte bis heute unklar ist, steht sie für ein besonderes Schicksal in den Zeiten der Teilung.

Wladimir Odinzow ist Anfang 1979 als sowjetischer Soldat in Elstal, etwa 15 Kilometer entfernt von Spandau, stationiert. Am 1. Februar, einem Donnerstag, bittet er um Ausgang und erhält ihn. Schon das ist ungewöhnlich, denn sowjetische Militärangehörige dürfen eigentlich die Kaserne nicht verlassen. Als Grund für den Ausflug hatte er angegeben, er wolle ein Lokal in Dallgow oder Seeburg besuchen. In Seeburg hat die Gaststätte aber am Donnerstag Ruhetag. Hat er das nicht gewusst? Oder war sie gar nicht sein Ziel? Auch eine Frage, auf die es bis heute keine Antwort gibt.

Suche nach Deserteur

Dass Wladimir Odinzow weiter in Richtung Mauer wollte, gilt zwar nicht als absolut ausgeschlossen, aber eher abwegig. Bei einer geplanten Flucht hätte er sicher eine Waffe mitgenommen. Außerdem gab es kürzere Wege von Elstal zur Grenze. Auch das Verhalten vor seinem Tod scheine nicht unbedingt zu einem "Republikflüchtling" zu passen. Trotzdem wird ihm die Mauer zum Verhängnis. Und das hängt mit einem anderen Sowjetsoldaten zusammen. Denn zeitgleich mit Wladimir Odizows nächtlicher Exkursion lief die Suche nach einem Rotarmisten, der aus einer Kaserne im Kreis Luckenwalde desertiert war. Es habe immer wieder solche Fluchtversuche gegeben, verwies Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, bei der Einweihung der Stele auf dieses ebenfalls eher unbekannte Kapitel. Ursache dafür seien die in der Regel unmenschlichen Verhältnisse in den Sowjetgarnisonen gewesen. Und eine Stationierung in der DDR bedeutete gleichzeitig, sie waren so nah am Westen, wie kaum irgendwo sonst. Trotz Mauer und Stacheldraht.

Der gelungene Grenzdurchbruch eines sowjetischen Armeeangehörigen musste mit allen Mitteln verhindert werden. Deshalb wurde die Grenzsicherung noch einmal verstärkt, sie begann bereits im Hinterland. Auch in Seeburg, wohin zwei Volkspolizisten aus Potsdam abkommandiert wurden. Sie treffen am 2. Februar gegen 0.30 Uhr auf der Dorfstraße auf den Soldaten und halten ihn offenbar für den Gesuchten. Ihren Angaben zufolge hätten sie ihn zunächst angerufen und, als er weiterlief, zwei Warnschüsse abgegeben. Wladimir Odinzow wirft sich auf den Boden, steht nach Befehl wieder auf, folgt zunächst der Aufforderung mitzukommen, aber weigert sich, die Hände hochzunehmen.

Polizisten werden entlastet

Danach habe er erneut zu flüchten versucht. Und zwar nach Aussagen der Vopos in Richtung Staatsgrenze. Allerdings deuten andere aufgefundene Dokumente darauf hin, dass er in die entgegengesetzte Richtung wegrannte. Die Polizisten verfolgen ihn, und als er nicht stehen bleibt, geben sie drei Schüsse aus einer Maschinenpistole ab. Wladimir Odinzow bricht zusammen und stirbt noch in Seeburg. Der eigentlich gesuchte Soldat wird einige Stunden nach der Tat auf einem sowjetischen Übungsgelände gefasst.

Diese und weitere Angaben stammen aus Dokumentation zu diesem Fall, die auf der Website "Chronik der Mauer" nachzulesen ist.

Von einer Verantwortung für den Tod des Rekruten werden die Volkspolizisten im Nachgang entlastet. Sie hätten, da Odinzowe der Aufforderung stehen zu bleiben nicht Folge geleistet hätte, entsprechend der Schusswaffengebrauchsvorschrift und der vorangegangenen Einweisung gehandelt. So wie das auch bei Flüchtenden an der Mauer passierte. Nicht nur deshalb sei auch sein Schicksal Ergebnis dieses Bauwerks und der damaligen Zeitumstände, rekapitulierte Maria Nooke und setzte es in einen noch größeren Zusammenhang. Hätte Nazideutschland keinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt, wäre die Rote Armee nicht ins Land gekommen, es hätte keine Teilung gegeben. Die Mauer wäre nicht gebaut worden und Menschen 28 Jahre getrennt. Der Soldat Wladimir Odinzow hätte nicht Militärdienst in der DDR leisten müssen, wäre deshalb ebenso wie 139 andere Menschen nicht an oder wegen ihr gestorben. Zerstörte Leben und damit verbundenes Leid, das bis heute anhält. Auch deshalb gibt es die Erinnerungsstele.

Die Spur zu Wladimir Odinzow habe sich durch einen Verweis in anderem Zusammenhang ergeben, berichtete Nooke ebenfalls. Es könne zwar inzwischen davon ausgegangen werden, dass alle Maueropfer bekannt seien, aber ganz sicher wäre das nicht.

Bei Wladimir Iwanowitsch Odinzow ist bis heute nicht geklärt, wer seine Familie war, was aus ihr wurde und ob es irgendwo ein Grab für ihn gibt. Vielleicht ist die Stele an der Wilhelmstraße der einzige Ort, der jetzt an ihn erinnert.

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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