„Wie bei 1001 Nacht“: Interview mit Georg Walter vom Medpunkt in Wilhelmstadt
Wilhelmstadt. Dr. Georg Walter leitet nicht nur die Rettungsstelle des Vivantes Klinikum Spandau, sondern auch den Medpunkt für Geflüchtete in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne. Im Gespräch mit Volksblatt-Reporterin Ulrike Kiefert erzählt er über "1001 Nacht" im Behandlungszimmer, fehlende Lotsen und warum das Helfen auch für die Helfer zur Gefahr werden kann.
Sie haben im November 2015 den Medpunkt in der Flüchtlingsunterkunft Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne übernommen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Georg Walter: Ich hatte selten so dankbare Patienten wie in den ersten sechs Monaten dort. Aber ich musste auch schnell lernen, dass Menschen aus anderen Kulturen im Zweifel ganz andere Vorstellungen davon haben, wie eine ärztliche Behandlung aussieht oder wie eine Anamnese abläuft. Auf eine einfache Frage wie: „Haben Sie Kopfschmerzen?“ gab es mitunter ein längeres Gespräch zwischen Patient und Dolmetscher und anschließend ausschweifend blumige Erzählungen über den Kopfschmerz in verschiedensten Lebenslagen. Wie bei 1001 Nacht. Da braucht man ungewohnt viel Geduld und merkt dann: Es geht oft gar nicht um Ja oder Nein, es geht ums Reden. Für den Arzt bedeutet das Zuhören.
Sie haben im Medpunkt bis heute mehr als 7000 Patienten behandelt. Mit welchen Krankheiten werden Sie hauptsächlich konfrontiert?
Georg Walter: Das wandelt sich. Am Anfang haben mein Team und ich die Menschen behandelt, die nach langer Flucht bei uns angekommen sind: Erkältungen, Erschöpfung, wunde Füße oder Mangelernährung. Erst später kamen auch Patienten zu uns mit akuten Problemen wie Diabetes oder Herzinsuffizienz. Insgesamt leben aber vorwiegend jüngere Menschen und auch viele Familien in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne. Man darf nicht vergessen, dass die Menschen größtenteils eine lange, strapaziöse Flucht durchgestanden haben. Wir sehen auch immer wieder Folgen von Verletzungen durch Misshandlungen, Folter oder Krieg. Die äußerlichen Wunden sind abgeheilt, aber Verstümmelungen und psychische Folgen bleiben.
Wo sehen Sie Engpässe in der medizinischen Versorgung der Flüchtlinge?
Georg Walter: Bei der Behandlung von Flüchtlingen sind wir unbedingt auf Sprachmittler angewiesen, auch um den kulturellen und persönlichen Hintergrund des Patienten berücksichtigen zu können. Zur Integration gehört, dass die Geflüchteten zunehmend das ambulante medizinische System nutzen. Das wird nur gelingen, wenn „Lotsen“ zur Verfügung stehen, Menschen mit medizinischem Hintergrund und Sprachkenntnissen, die als Sprachmittler und als Vermittler zwischen den medizinischen Kulturen fungieren. Wir werden diesen Bereich deutlich erweitern. Zusätzlich wird mehr soziale und psychiatrische Betreuung notwendig sein, denn jetzt machen sich die Folgen von Traumatisierungen zunehmend bemerkbar. Viele „Erst“-Bewohner mit guten Startvoraussetzungen wie Sprache, Beruf oder Bildung sind mittlerweile in Gemeinschaftsunterkünfte gezogen. Zurück bleibt, wer mehr Zeit und Unterstützung braucht.
Welche Bewohner sind das?
Georg Walter: Dazu zählen Frauen und Männer mit teils schweren psychischen Erkrankungen in Folge von Folter, Krieg, Flucht und Vertreibung. Mit der Zeit manifestieren sich diese Störungen deutlicher. Es gibt einen steigenden Bedarf an psychiatrischer Betreuung. Sorgen bereitet uns der zunehmende Konsum von Medikamenten und Drogen, die oft als Selbstmedikation gegen die Ängste und Schlafstörungen aufgrund psychischer Störungen eingenommen werden. Außerdem wird sich der medizinische Bedarf in den Unterkünften zunehmend auf die Versorgung besonders schutzbedürftiger Gruppen, also auf niederschwellige kinderärztliche, frauenärztliche und psychiatrische Sprechstunden konzentrieren.
Bis zur Übernahme des Medpunktes hatten Sie nur eine kurze Vorbereitungszeit. War das schwierig?
Georg Walter: Ja, aber es hat auch Spaß gemacht sich mal außerhalb der üblichen Bahnen zu organisieren. Wir haben in neun Tagen die Mitarbeiter eingestellt, Konzepte entwickelt und den Medpunkt umgebaut. Dabei wurden wir von vielen freiwilligen Helfern, der Prisod als Betreiberin der Einrichtung, vom Land und natürlich von Vivantes unterstützt. Alle waren bereit zu improvisieren, auf Zuruf zu entscheiden und zu handeln. Die Charité hatte zuvor die Versorgung in der damaligen Notsituation ausschließlich mit ehrenamtlichem Engagement gestemmt. Die Umstellung auf professionelle Strukturen mit ihren Regelungen und Hygienevorschriften hat dann erst einmal einige Reibung mit sich gebracht.
Spandau ist ja bekannt für sein großes ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe.
Georg Walter: Die Freiwilligen haben in unserem Medpunkt Großartiges geleistet. Aber mittel- und langfristig können die Ehrenamtlichen das große Engagement nicht durchhalten. Die Patienten profitieren auch davon, wenn sie von bezahlten Mitarbeitern in professionellen Strukturen betreut werden. Teilweise muss man die Ehrenamtlichen auch vor sich selbst schützen.
Wie meinen Sie das?
Georg Walter: Im Krankenhaus haben wir im letzten Jahr etliche Helfer behandelt, die psychosomatisch erkrankt waren, weil sie sich zu sehr verausgabt hatten. Vor allem nachdem die vielen Studierenden wieder zurück an die Unis gegangen sind, haben sich viele in einem moralischen Dilemma gesehen: „Wenn ich hier nicht helfe, tut es niemand.“ Manch einem geht das Schicksal einer bestimmten Familie besonders nah. Dann ist es schwierig, sich abzugrenzen. Die Gefahr besteht darin, in einem Dauereinsatz all die drängenden Schwierigkeiten und Probleme anzugehen. Dann entsteht für den Helfer eine erschöpfende und frustrierende Situation, die zu Krankheit führt. Die Krankheit fungiert als Ausweg aus dem moralischen Dilemma.
Fiel Ihnen die Abgrenzung auch schwer?
Georg Walter: Ja, wenn unter den Geflüchteten Ärzte waren, dann ging mir das immer besonders nah. Dann sieht man sich selber in denen. Und wenn sie dann noch Kinder haben –ich denke da an einen Arzt aus Aleppo –, dann versucht man natürlich alles für diese Patienten möglich zu machen. Da besteht dann schon die Gefahr, seine Distanz zu verlieren.
Welches Fazit ziehen Sie nach nach mehr als einem Jahr Medpunkt?
Georg Walter: Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine Verwaltungskrise. Bürokratische Hindernisse haben mich die meisten Nerven gekostet und sorgen dafür, dass sich Probleme oft schneller entwickeln als die guten Lösungsansätze, die es im Bezirk gibt. Dabei sehe ich echte Chancen bei den Leuten. Viele sind unter 18 Jahren, und es gibt viele junge Familien unter den Flüchtlingen. Wir betreuen allein in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne rund 40 Schwangere. Und die Kinder sprechen alle schon super Deutsch. Ich habe viele gut ausgebildete Menschen getroffen, die arbeiten wollen und darunter leiden, passiv zu sein und sich versorgen lassen zu müssen. Die wollen loslegen. Also da steckt enormes Potenzial drin, für den Bezirk Spandau und für unsere Gesellschaft.
Autor:Ulrike Kiefert aus Mitte |
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