Das Dorf der Architekten: Werkbund plant im Mierendorff-Kiez 1100 Wohnungen
Charlottenburg. 30 000 Quadratmeter Platz, 30 Architekten – eine Vision: Das Tanklager am Spreebord weicht einem völlig neuen Stadtquartier. Doch die Superlative befreien nicht von allen Sorgen.
So wohnt man heute. Das ist eigentlich alles, was der Werkbund der Welt sagen will. So leicht der Satz Paul Kahlfeldt, dem stellvertretenden Vorsitzenden, über die Lippen kommt – das Vorhaben zwischen Spreebord und Quedlinburger Straße wird kein Bauprojekt von der Stange. Es soll als Maßstab gelten für das gelungene Zusammenleben in einer Großstadt des 21. Jahrhunderts.
Die Grundbedingungen dafür lauten wie folgt: Man nehme ein weitläufiges Industriegrundstück, befreie es von seinen stählernen Altlasten. Man befriede drei Grundstückseigentümer, die ebenso gut eigene Pläne verfolgen könnten. Und dann lasse man den Ideen von 30 handverlesenen Architekten freien Lauf. Was dabei herauskommt? Bestenfalls ein quicklebendiges, neues Stadtquartier mit 1100 Wohnungen und Vorbildwirkung. Schlimmstenfalls ein Chaos.
„Dies wird die Werkbundstadt“
Dass letzteres ausbleibt, dafür will der Deutsche Werkbund, ein 1907 gegründeter Zusammenschluss von Architekten, Künstlern und Unternehmern, alle Register ziehen. „Dies wird die Werkbundstadt“, erklärt Kahlfeldt. „Ein urbanes, dichtes Gebiet, so wie es hier auf der Mierendorff-Insel hingehört.“ In enger Abstimmung mit Baustadtrat Marc Schulte (SPD) und Rainer Latour, dem Leiter des Stadtplanungsamts, steuerten die Planungen monatelang dem Moment entgegen, da man das Großprojekt öffentlich präsentieren kann.
Und nun war es so weit. Neben einem ersten Holzmodell und schematischen Karten saßen alle Verantwortlichen in der Mierendorff-Grundschule beisammen und skizzierten ein Vorhaben, das sich anhört, als wolle man einen gemeinsamen Wunschtraum in Beton gießen.
Nicht weniger als 33 unterschiedliche Häuser sollen entstehen. „Es wird eine Fortstrickung des Vorhandenen mit Beziehungen zum Wasser“, verspricht Kahlfeldt. Entfaltungsraum zum Weiterführen des Berliner Nebeneinanders von Wohnen, Arbeiten und genussvoll Leben. „Jedes Haus bekommt eine eigene Adresse und eigenes Gesicht zur Straße. Es gibt Wege, aber keine Autoabstellflächen. Sushi kann geliefert werden, aber es wird nicht geparkt.“ Autos ruhen unter der Erde, auf dass an der Oberfläche Raum bleibt zur Selbstentfaltung.
Der Zeitplan? Stramm gegliedert. Schon im Februar beginnt die Abstimmung mit Grundstückseigentümern und dem Bezirk zur Bebauung der Parzellen. Beteiligt sind Werkbund-Büros in der ganzen Welt. London, Mailand, Berlin, Schweiz. Gedanken aus höchst verschiedenen Erdteilen und Architektenköpfen greifen auf dem Areal des Tanklagers ineinander.
Erste Pläne am 23. September
Zur Mitte des Jahres will man entschieden haben, welches Planungsbüro welche Parzelle entwickelt. Und am 23. September, dem Werkbundtag, soll das Publikum statt Holzklötzchen bereits konkrete Simulationen zur Kenntnis nehmen. Schon jetzt steht laut der Berliner Werkbund-Vorsitzenden Claudia Kromrei fest, dass 30 Prozent der Siedlung auch für den kleinen Geldbeutel taugen sollen. Das heißt: Knapp ein Drittel kommen zu Preisen auf den Markt, die andernorts für Sozialwohnungen üblich wären, allerdings ohne staatliche Förderung. Und das in jedem einzelnen Haus.
Was das kühne Vorhaben aus stadtplanerischer Sicht bedeutet? Für Amtsleiter Latour ist es die Heilung einer lange durch Industrienutzung entstellten Stadtlage. Was bleibt, ist der „Elefantenblock“ des Vattenfall-Kraftwerks. Nach dem Krieg wurde die alte Parzellierung aufgegeben, „weil die Industrie stärker war“.
Jetzt schreibt man das Jahr 2016. Ein Zeitpunkt, in dem Wohnraum dringender benötigt wird denn je. Und das Kräfteverhältnis zwischen Industrie und Platz zum Leben, es dreht sich erneut. Dass im Werkbundquartier auch zwei 16-geschossige Hochhäuser stehen dürften, ist aus Sicht von Stadtrat Schulte nur konsequent. „Wir müssen sehen, wie wir diese Baumasse hinbekommen und dabei noch Raum für einen grünen Stadtplatz erhalten“, sagt er den Kritikern dieser Idee. „Die Frage ist doch: Soll sich das Wohnen hinter dem Kraftwerk verstecken? Oder soll es einen sichtbaren Akzent setzen?“
Es deutet sich an – wo so viel gebaut wird, bleibt auch reichlich Raum zur Debatte. Und in der Tat: Auch Paul Kahlfeldt behauptet nicht, dass die Werkbundstadt ohne Dispute bezugsfertig wird: „15 Prozent der Arbeit stehen fest. Über 85 Prozent werden wir noch streiten.“ tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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