Künstler lehren Kinder das Einmaleins des Sprühens

Berlin. Wenn die Graffiti-Künstler im Klassenzimmer stehen, klackern die Dosen. Wandverzierung im Kunstunterricht? Der Grundgedanke dahinter: Wer nach Plan sprayt, malt nicht mehr "wild".

Es ist ja nicht so, dass Dilara nicht wüsste, was sie malen soll. Gäbe man ihr Buntstifte oder Wasserfarben - sie brächte im Nu ein kleines Gartengemälde zu Papier. Einen Zauber in Weiß, Türkis und Grün. Aber mit Sprühdosen auf eine Wand? Aus Dilaras rehbraunen Augen spricht Zweifel. Darf man das denn? Die Achtjährige lässt den Blick schweifen über zwei riesige Fantasiefiguren, einen Elefanten und einen Hund in satten Farben. Eine Zierde für die finster-graue Fassade des Hauses der Jugend am Nauener Platz.

Mannshohe Wandgemälde

Ja, hier gab es eine Erlaubnis. Hier durfte man. Und in Kürze können Dilara und ihre Freunde das begonnene Werk vollenden. Sie können lernen, wie man Buchstaben auf die Wand bringt. Fett, glänzend, von Schatten hinterlegt. Oder mannshohe Wandgemälde in ihren liebsten Farben. All das unter Anleitung. Und ganz legal. Für heute belässt es die Achtjährige in Sachen Graffiti-Kunst beim Betrachten. "Das ist bestimmt ganz schön schwer", zollt sie dem Künstler Respekt.

Neben Dilara steht Roger Berndt, Spitznahme "Kobe", Urheber des Elefanten und des Hundes. Einer, der mit Werken wie diesen Geld verdient. Der Hund und der Elefant, das sind zwei seiner Lieblingscharaktere. Und es sind Vorboten seines bevorstehenden Projekts hier am Haus der Jugend. Denn "Kobe" kommt bald wieder - als Kursleiter, als Dozent der "Graffiti-Lobby", eines Netzwerks aus 15 Gleichgesinnten, die Sprayer-Kultur gesellschaftsfähig machen wollen. Für die meisten von ihnen war die "Lobby" als Basis für Auftragsarbeiten und Buchungsmöglichkeiten ein Ausweg aus der Illegalität. Jetzt geben sie also Kunstunterricht, übertragen Picassos Lehren auf Beton, dass die Sprühköpfe nur so zischen. Sie nehmen Kindern den Reiz des Verbotenen, bevor die Straße sie verführt.

Jeder denkt, das geht ganz leicht

"Einfach jeder denkt, man kann eine Dose in die Hand nehmen und dann geht es ganz leicht", warnt Roger vor einem leichtfertigen Umgang mit seiner Kunst. "Aber es braucht zur Umsetzung großer Bilder Vorstellungskraft und technische Erfahrung." Vom einfachen Gekritzel bis zum großen Wandbild vergingen viele Jahre der Übung.

Dass Roger im Namen der "Graffiti-Lobby" dozieren darf, dazu braucht es nicht nur den Respekt der Kinder. "Ich stehe voll dahinter". Das sagt einer, der sich auch hätte querstellen können. Ulrich Davids, Jugendstadtrat des Bezirks Mitte, ist mit "Graffiti Lobby"-Gründer Jurij Paderin übereingekommen, dass im Haus der Jugend, im Diesterweg-Gymnasium und in der Carl-Humann-Grundschule ab dem Spätsommer Kurse anlaufen werden.

Angeleitetes "Taggen"

Hans Panhoff, Stadtrat-Kollege in Friedrichshain-Kreuzberg, glaubt schon seit Längerem an deren Nutzen. Er hörte am Dathe-Gymnasium von Kindern, die den Graffiti-Kunstunterricht noch fortführen wollten, als der Schlussgong erklang. Auf Ebene der Landespolitik hat Ilkin Özisik von der SPD das angeleitete "Taggen" ("Tag" = Signaturkürzel, häufig als Unterschrift unter gesprühten Bildern zu finden) als Thema entdeckt. Und nun Ulrich Davids in Mitte. "Wildes Sprühen findet dadurch bestimmt kein plötzliches Ende. Aber es entsteht ein anderer Blick dafür bei den Jugendlichen. Das ist auf Dauer der richtige Weg", glaubt der Politiker.

So schnell Berlin nach dem Mauerfall als Graffiti-Hauptstadt Ruhm erwarb, so sehr war es bis vor Kurzem graffiti-politisches Entwicklungsland. Das glaubt Jurij Paderin, ein diskussionsfreudiger Mann von 32 Jahren, Chef der "Lobby", Mittler zwischen der Subkultur und ihren Ächtern.

"Es ist doch widersprüchlich, Graffiti einerseits zu verteufeln und Sprüher mit Hubschraubern jagen zu lassen. Und andererseits wirbt man vor Touristen damit, Berlin sei eine bunte Stadt", sagt er. "Wir zeigen, dass man ,Fame‘ (zu Deutsch: Ruhm) auf verschiedene Weisen erlangen kann. Über Quantität oder über Qualität." Das sagt Paderin zu den Jugendlichen, wenn sie kurz davor sind, in die Szene einzutauchen.

Respekt über die Sprayerszene hinaus

Es gibt den Ruhm, erworben durch möglichst viele, möglichst ausdrucksstarke Hinterlassenschaften an möglichst spektakulären Stellen. Und es gibt denjenigen mit Auftragsbestätigung und einer Reichweite des Respekts über die Sprayerszene hinaus.

"Du kannst dir dein Leben verbauen", sagt Jurij den Jungendlichen. Sein Wissen stammt aus erster Hand. Jurij stand in seinem Leben vor der Legalität selbst schon vor Gericht. Graffiti - eine gefährliche Liebe. Der "Fame" hat zwei Gesichter. Jurij kennt sie beide. Und er kam mit seinen Dosen aus dem Zwielicht in den Sonnenschein. "Fame" werde für die Artisten der Straße immer Antrieb bleiben. So oder so. Auch dann, wenn man die Folgen hart bestraft. "Wie lange hat man es nun schon mit Null-Toleranz versucht? Aber Graffiti in Berlin gibt es nach wie vor." Deshalb will Jurij eine sanftere, vorbeugende Politik statt der harten Linie hinterher. Er will mehr "legale" Wände. Und Sprayerkurse vor dem Einflattern von Schadensersatzansprüchen. Was in Berlin fehle, seien Graffiti-Beauftragte. Dolmetscher zwischen Staatsgewalt und Straßenkunst. Andere deutsche Städte seien da weiter. "In Düsseldorf, Dortmund, Frankfurt - überall gibt es Graffiti-Beauftragte. Sie reden in offenen Runden mit Politikern und der Polizei. Und dort ist ,wildes‘ Graffiti deutlich zurückgegangen." Nun, da die Stadt langsam umdenkt, sei es an der Zeit, alle Seiten an einen Tisch zu bringen.

Einen Graffiti-Kongress, wie er Jurij Paderin vorschwebt, hätten Politiker 2005 zwar schon einmal ausgerufen. "Eingeladen waren aber nur Reinigungsfirmen", erzählt er. Sie haben die Stadt nicht sauber bekommen.

Vorbeugung oder falscher Anreiz?

Mehrheit sieht Graffitikunst im Unterricht kritisch

Auf die Frage, ob sie Graffitikurse an Schulen für sinnvoll halten, antworteten nur 21 Prozent der Teilnehmer an unserer Leserfrage mit ja, 79 Prozent sagen nein. Ilkin Özisik, bildungspolitischer Sprecher der SPD im Abgeordnetenhaus, kennt die Bedenken, rückt aber andere Aspekte in den Blick. "Wir müssen Jugendlichen im Unterricht Inhalte anbieten, die Teil ihres Lebens sind. Es ist wichtig, ihre Sprache zu verstehen und zu sprechen." Wenn man richtig mit dem kreativen Gestaltungswunsch umgehe, bekämpfe man mittelfristig Vandalismus durch Graffiti. Geboten sei ein sachlicherer Umgang mit dem Reizthema. Sobald es gelingt, Kurse, wie sie die Graffiti-Lobby anbietet, an Schulen und Jugendeinrichtungen salonfähig zu machen, will sich Özisik um eine weitere oft gestellte Forderung aus der Szene kümmern: die Bereitstellung von mehr legalen Sprühflächen. Im Sinn hat er dabei Wände an Schulen und Behördengebäuden. Schließlich hofft der Abgeordnete, dass sich auch Wohnungsbaugesellschaften, BVG und die Deutsche Bahn für legale Graffiti-Projekte öffnen.

Sprayern drohen Haftstrafen

Strafbar ist das Aufbringen von Graffiti laut Gesetz immer dann, wenn der Eigentümer der besprühten Fläche nicht ausdrücklich seine Erlaubnis dafür gegeben hat. Die Polizei rät dazu, eine solche Erlaubnis im Fall einer Auftragsarbeit immer schriftlich einzuholen.Kann den Graffiti-Künstlern Sachbeschädigung nachgewiesen werden, drohen ihnen Geldstrafen oder bis zu drei Jahre Haft. Belangt werden kann auch, wer nur Wache hält, während seine Komplizen das Werk ausführen.

Wenn Verursacher die Entfernung ihrer Werke nicht bezahlen können, darf der Geschädigte sogenannte Schuldtitel erwerben. Damit kann er seine Ansprüche 30 Jahre lang aufrecht erhalten und dabei auch Lohnpfändungen erzwingen.

Die Bundespolizei beziffert den Schaden durch Graffiti in Berlin auf 35 Millionen Euro pro Jahr.

Thomas Schubert / tsc
Autor:

Thomas Schubert aus Charlottenburg

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