Nach Gewalt-Exzess am Alex bleibt bei vielen die Angst
An einem tristen Wochentag steht Frank Henkel auf halbem Weg zwischen Weltzeituhr und jenem Punkt, an dem der 20-jährige Berliner tödliche Prügel bekam. Der Innensenator baut sich vor dem neuen Kontaktmobil der Polizei auf. Vor ihm ein Großaufmarsch an Presse. Hinter ihm die vorläufige Lösung für das Unbehagen - ein Polizeibus, besetzt mit zwei Beamten. Ein dienstüblicher Polizeibus wie jeder andere, mit dem Unterschied, dass er Kontaktmobil heißt und fortan ständig am Alexanderplatz parkt. Einem Ort, der spätestens mit dem "Vorfall", seine Unschuld verlor. "Der Vorfall", sagt Henkel an diesem Tag, "macht es nötig, dass wir unsere Bemühungen verstärken. Mit dem Kontaktmobil wollen wir präsent sein, Beratung bieten, wollen schneller reagieren können, wenn etwas passiert." Jonny K.s gewaltsamer Tod am Fernsehturm, noch ungeahndet und im ganzen Land als Sinnbild für die Verrohung Berlins verstanden, hat nun optische Folgen. Senator Henkel präsentiert der Öffentlichkeit am Tatort nachträglich mehr Blaulicht, mehr Uniformierte. Er postiert hier auch mehr Beamte in Zivil - ohne seine Truppe personell verstärkt zu haben - und im Wissen, dass der Alexanderplatz statistisch gesehen nicht heikler einzustufen ist als andere Knotenpunkte auch. Doch hier, wo stündlich bis zu 10 000 Menschen das Feld der Betonplatten queren, sind Furcht und Empörung nun gegenwärtig.
Passantin Ute Göbel schüttelt den Kopf. "Eine reine Showveranstaltung ist das", urteilt sie über die Einführung des blau-silbernen Busses, der die meiste Zeit an der Ecke Rathaus- und Gontardstraße parkt. "Und dann bezeichnen sie es auch noch als feierliche Einweihung, wenn hier jetzt endlich regelmäßig Polizei zu sehen ist. Ich meide diese Gegend im Dunkeln schon lange."
Angstplatz Alex? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt und in welchem Umfeld dieser Mensch ansonsten verkehrt. "Mir wird viel eher bange, wenn ich an die Drogendealer am Görlitzer Park denke", sagt Eva aus Kreuzberg. Es ist Nachmittag und sie schlendert mit ihrer Freundin Wilma über die Rathausstraße zur Marienkirche. Doch seitdem hier ein Pavillon voller Kerzen an Jonnys Tod erinnert, ist die Wahrscheinlichkeit, diesen Weg unbekümmert zu vollziehen, rapide gesunken. Hier verstummen Gespräche, Mütter nehmen ihre Kinder an die Hand, ausländische Touristen tuscheln, sind unschlüssig. Was ist hier nur passiert?
Eva und Wilma stehen vor dem kleinen Zelt, Kerzenlicht schwimmt auf ihren Gesichtern. Sie blicken auf angeheftete Zettel voller zorniger und trauriger Botschaften, betrachten weiße Rosen vor einer Fotografie: Jonny, wie er Zeige- und Mittelfinger zum Siegeszeichen spannt. "Die Stärkeren nehmen sich einfach immer mehr heraus und das macht mir Sorgen", unterbricht Wilma schließlich die Ruhe.
Dass ein Stückchen weiter das Kontaktmobil seinen Dieselmotor aufschnarren lässt, geht fast unter im Schlurfen vieler Schuhe über nassen Asphalt. "Was wir tatsächlich brauchen", sagt Eva, "ist doch Gewaltprävention an Schulen." Angstgefühle am Alexanderplatz festzumachen, das scheint weder Wilma noch ihr schlüssig. "Wenn die Polizei immer hier steht, wird sie logischerweise woanders fehlen. Ich würde solche Maßnahmen nicht auf einen bestimmten Ort beschränken", sagt Eva.
Eine Haltung, die Gisela Raimund, Sprecherin der Opferschutzorganisation Weißer Ring teilweise nachvollziehen kann. "Mehr Polizei bedeutet nicht automatisch mehr Sicherheit", bestätigt sie. "Opfer kann jeder werden, an jedem Ort und zu jeder Zeit." Und dennoch stehe der Weiße Ring mehr Uniformierten im Stadtbild offen gegenüber: "Es ist insofern zu begrüßen, dass vielen Bürgern seit den Übergriffen am Alexanderplatz das Sicherheitsgefühl abhanden kam." Raimund selbst leitet in Tempelhof-Schönenberg eine von berlinweit 14 Außenstellen der Organisation. Etwa 1200 Kriminalitätsopfer jährlich suchen beim Weißen Ring Rat, Begleitung bei Behördengängen, vor allem aber jemanden, dem sie ihr Leid schildern können.
Den Ruf nach härteren Strafen hört Gisela Raimund eher selten. "Die Täter zu fassen und zu verurteilen, ist Gewaltopfern sehr wichtig. Aber die Härte der Strafe ist nicht so sehr das Entscheidende. Das Urteil an sich stellt für sie einen Abschluss dar. Das zählt."
Bis Tina K. derart mit dem Verlust ihres Bruders abschließen kann, wird wohl noch geraume Zeit vergehen. Es war das erste Weihnachtsfest, der erste Jahreswechsel ohne Jonny. "Ich glaube noch an die Politik und die Polizei", sagt die junge Frau, während sie im Gedenkpavillon etwas Ordnung schafft. Polizei und Politik können aus ihrer Sicht aber nicht beheben, was gesellschaftlich misslingt. "Wir brauchen ein friedlicheres Miteinander und müssen daran denken, dass jeder auf der Straße für jemanden Mutter, Vater, Sohn oder Schwester ist."
Zusätzliche Polizisten in Ausbildung
Leser wollen mehr Uniformierte auf Straßen und Plätzen
Mehr Polizeipräsenz wünschen sich 97 Prozent der Teilnehmer unserer Leserumfrage. Sie beantworteten eine entsprechende Frage mit Ja. Auf dem Alex habe man dem Ruf aus der Bevölkerung nach mehr Präsenz bereits entsprochen, erklärt Polizei-Sprecher Thomas Neuendorf. Die Aktivität der Streifen sei seit dem Tod von Jonny K. im Oktober verstärkt worden. Insbesondere in den Abendstunden am Wochenende patrouillieren die Beamten gut sichtbar auf beiden Seiten des Hochbahnhofs. "Nach diesem Vorfall war eine besondere Reaktion gefragt. Man muss in solchen Fällen dem Empfinden der Menschen Rechnung tragen", begründet Neuendorf den Schritt. Er bestätigt auch, dass es für die Maßnahme keine personelle Verstärkung gab. Die Polizei habe aber einen Spielraum, innerhalb dessen sie die vorhandenen Kräfte verteilen kann, ohne anderenorts große Lücken aufzureißen. "Wir müssen Schwerpunkte setzen", sagt der Sprecher. Mit einer Vergrößerung der Truppe sei in einem Jahr zu rechnen. Dann stehen 250 Kräfte zur Verfügung, die sich noch in der Ausbildung befinden und speziell in Bussen, Bahnen und Bahnhöfen für Sicherheit sorgen sollen.
In ihrem 2012 vorgelegten Kriminalitätsatlas spricht die Polizei bei den Delikten Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung von einem rückläufigen Trend. Gegenüber 2006 sank die Zahl der registrierten Taten bis 2011 um 8,7 Prozent, bei den schweren Fällen sogar um 17 Prozent. Für 2011 bedeutet das: Pro 100 000 Einwohner wurden 1227 Fälle von Körperverletzung, 310 Fälle von schwerer Körperverletzung registriert. Insgesamt gab es berlinweit 42 000 Delikte. Klar rückläufig war laut der Statistik auch die Zahl der Raubüberfälle - 24,6 Prozent weniger als 2006. Seit Oktober hat Berlin als bundesweit erstes Land einen Opferbeauftragten. Der Rechtsanwalt Roland Weber berät über Hilfsmöglichkeiten und vertritt ihre Belange politisch. Kontakt unter 90 13 34 54, info@opferbeauftragter.berlin.de.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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