Der Foto-Professor und sein Werk: C/O Berlin zeigt Stephen Shores Vermächtnis
Charlottenburg. Die ältesten Bilder: 40 Jahre alt. Die jüngsten: erst vor zwei Tagen entstanden. Im Amerikahaus begeben sich Besucher jetzt auf die Spuren des legendären Stephen Shore. Er lernte von Andy Warhol, erfand die Fotografie etliche Male neu. Und setzt jetzt auf das Smartphone.
Eine Hand steckt in der Hosentasche, die andere ist zum sachten Gestikulieren da. Durch feine Brillengläser geschärft, sind die Augen mit der Analyse des Fragestellers befasst. Kleinkariertes Sakko, weit geschnittene Blue Jeans, wattiges, weißes Haar. Stephen Shore steht vor der Fernsehkamera wie ein Professor im Hörsaal. „Es ist faszinierend und schockierend“, sagt er mit einer ruhigen, tiefen Stimme, die von seiner Aufregung nichts verrät. „Denn wissen Sie, ich habe noch nie mein ganzes Werk auf eine Fleck gesehen.“
Die große Retrospektive in der Galerie von C/O Berlin, sie lässt also selbst ihn, der als erster lebender Fotograf im New Yorker Metropolitan Museum of Art ausstellen durfte, vernehmbar schlucken.
Shore liebt das Alltägliche
Stephen Shore, einer der einflussreichsten Lichtbild-Künstler der Gegenwart, steht ziemlich genau nach 20 Jahren wieder im Amerikahaus. Sein Stil hat sich seit der letzten Schau wieder geändert. Doch seine Philosophie setzt sich in den neuesten Werken fort. Den richtigen Moment – etwas, von dem andere Fotografen besessen sind – überließ er anderen. Shore liebt stattdessen, was viele seiner Kollegen abtun: das Alltägliche, das Banale. Karge Landschaften, Straßenecken der amerikanischen Provinz, ungekünstelte Porträts, Stillleben der Langeweile. Es ist das Fehlen des Spektakulären, das sich durch all die Jahrzehnte zieht und bis heute erstaunt. Selbst das turbulente Straßenleben New Yorks springt in Shores Wiedergabe nur durch seine Unaufgeregtheit ins Auge. Dieser Mann war ein Denker am Sucher. Und als solcher eine Inspiration.
„Chronist des Unspektakulären“, nennen ihn die Kuratoren von C/O Berlin. Er selbst begreift Fotografien eher als Notizzettel, nicht als komplexe Zeugnisse des Wirklichen. Andere mochten das Besondere jagen, Shore lieferte den „Anti-Stil“. Ob der 68-Jährige durch seine frühe Würdigung im wichtigsten Kunstmuseum der Welt auf Effekthascherei verzichten lernte? Oder ihn die Bekanntschaft mit Querkopf Andy Warhol als Teenager den nötigen Anstoß gab?
Die Lust am Abweichen und Vorausdenken, sie lässt sich jetzt bei C/O Berlin in jeder Nische beschauen. In den 70ern, als Fotokunst schwarz-weiß zu sein hatte, griff Shore zum Farbfilm. Jetzt, da man in Kunstkreisen über Handyfotos die Nase rümpft, zieht er sein Smartphone aus der Tasche des Jackets. Schon kurz darauf reist der Schnappschuss bei „Instagram“ durch die Welt. Oder ergänzt die Retrospektive im Amerikahaus. Das Lebenswerk wächst weiter, so lange Shore noch atmet und knipst. tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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