Eine Reise ins Blaue: Das Geheimnis der Gedächtniskirche ist die doppelte Wand
Charlottenburg. Wer allabendlich den blauen Schein bewundert, dürfte es sich insgeheim gefragt haben: Wie viele Fenster hat sie eigentlich, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche? Um die Zahl zu ergründen und das Ergebnis zu verstehen, muss man einen Blick werfen auf die äußere Wand – und die innere.
22 790 Fenster – und keines gleicht dem anderen. Glockenturm, Kapelle und die Kirche selbst, sie alle sind überzogen mit blauen Kästchen in schwindelerregend hoher Zahl. Und das Geheimnis des blauen Scheins? Es liegt verborgen in einem Geheimgang, den die wenigsten Kirchenbesucher kennen. Man nehme eine Leiter neben der Orgel und trete ein in den Spalt zwischen innen und außen.
Grober Kies knirscht unter den Sohlen, sobald man den Hohlraum betritt. Und sofort dämmert die Erkenntnis. Dies also ist der Ort, an dem die Gedächtniskirche ihr Licht erzeugt. Die Quelle des Glanzes in der Dunkelheit. Unweigerlich geht der Blick nach oben. Man ermisst die Weite des hohen Spalts zwischen den beiden Wänden. Tatsache: Es sind zwei. Eine mit kleinen Mosaikfeldern, eine äußere mit großen. Dazwischen liegt ein Gewirr von Leitungen, Rohren – und grellen weißen Leuchten.
Wie blaues Licht entsteht
„Hier können Sie also erkennen, wie das blaue Licht entsteht“, erklärt Kirchenführer Björn Kienke. Er weist auf die LED-Strahler, die in beide Richtungen wirken. „Früher waren es große Glühbirnen, die extrem viel Strom gefressen haben. Heute sind es LEDs.“ Dass Egon Eiermann bei der Erbauung des neuen Ensembles aus Kirche, Glockenturm und Kappelle auf den Schein der blauen Fenster setzte, kam nicht von ungefähr. „Blau ist Ausdruck des Versöhnungsgedankens“, sagt Kienke. Als Mahnmal gegen den Krieg muss der Sakralbau mehr leisten als nur vom göttliche Wirken zu künden. Die Mitgliedschaft in der Nagelkreuz-Gemeinschaft von Coventry, das Aussöhnen nach den Kriegswirren, verpflichtete die Kirchenbauer in den 50ern zu besonderen Ausdrucksformen beim Wiederaufbau des Wahrzeichens.
Gabriel Loire verewigt
Gabriel Loire hieß der Künstler, der die Tausenden Glasfenster entwarf. Alle blau. Alle Unikate. Als Dank dafür, dass er jedem Mosaikstück ein eigenes Muster gab, durfte Loire seinen Namen in ein gut sichtbaren Innenfenster prägen lassen. „Dass so kurz nach dem Krieg ein Franzose bei diesem Bauvorhaben Hand anlegte, galt als Zeichen der neuen deutsch-französischen Freundschaft“, betont Kienke. Blau als Farbe der Glaskunst im kriegsverwüsteten Nachbarland. Blau als Farbe des Wiederaufbaus am Berliner Breitscheidplatz.
Einige Wegbiegungen weiter erblickt man schließlich ein Innenfenster, das erst nachträglich entstand. Es trägt die Initialien „EI“. Ein Tribut an Egon Eiermann, angebracht nach dessen Tod. Für den unerfahrenen Beobachter nicht leicht zu finden, aber „sobald Sie die Buchstaben in den blauen Mosaiken einmal entdeckt haben, springen sie jedes Mal ins Auge“, verspricht Kienke. Es gibt manches, was dem Kirchgänger im neuen Lichte erscheint nach dem Spaziergang zwischen blauen Wänden. tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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