10 000 Obdachlose in Berlin trotzen der Kälte

Jenny De la Torre kuriert in ihrer Praxis die Leiden der Ärmsten. Um dauerhaft gesund zu werden, glaubt sie, muss man weg von der Straße. | Foto: Thomas Schubert
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  • Jenny De la Torre kuriert in ihrer Praxis die Leiden der Ärmsten. Um dauerhaft gesund zu werden, glaubt sie, muss man weg von der Straße.
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Berlin. Wenn der Frost kommt, wird Wärme lebenswichtig. Die Bahnhofsmission am Zoologischen Garten und die Praxis der Obdachlosen-Ärztin Jenny De La Torre sind nur zwei der Orte, wo die Ärmsten dieser Stadt Zuwendung finden. Doch auf Dauer hilft nur eins: Rückkehr in die Gesellschaft.

Es ist wegen seiner Füße. Weshalb man Hermanns Geschichte vom unteren Ende des Körpers her erzählen muss, hat einen guten Grund. Hermann, 54 Jahre alt, zuletzt wohnhaft im Wald, liegt jetzt eingemummelt im Bett, liest einen Roman im Hinterstübchen der Evangelischen Bahnhofsmission am Zoologischen Garten. Titel: "Schatten der Verdammnis." Thema: Die Apokalypse 2012. Nun ist der Weltuntergang im vergangenen Dezember ausgeblieben - auch Hermann kam glimpflich davon. Doch bei ihm war es knapp. Und das hat zu tun mit den beiden beiden Erhebungen am Ende der Decke, die ihn wärmt. Fast zwei Monate ist es her, dass er sich an einem frostigen Tag beim Sockenwechsel die Haut abzog. "Da war nur noch das nackte Fleisch", beschreibt der Obdachlose seine Erfrierungen zweiten Grades. Aus eigener Kraft erreichte er die Bahnhofsmission, gelangte von dort in einen Krankenwagen - aber nicht in eine Klinik.

Im Krankenhaus abgewiesen

Weil es die Sanitäter ablehnten, ihm aus den Schuhen zu helfen. "Sehen sie sich meine Füße an, sagte ich. Sie sagten: Wir haben anderes zu tun. Du kannst laufen." Also stieg Hermann aus und lief. Vor dem Krankenhaus angelangt, scheiterte der dann am Pförtner. "Es hieß, ich sei kein Notfall." Also kehrte der Abgewiesene dorthin zurück, wo erfrorene Füße etwas zählen. Und er musste nur einen Schuh ausziehen, um Dieter Puhl, den Leiter der Bahnhofsmission, zu etwas zu bewegen, was er eigentlich nicht leisten kann. Puhl quartierte ihn im Hinterzimmer ein.

Er zeigt an Hermanns Beispiel, was man leisten müsste, um Menschen wie ihn von der Straße zu holen. Zurück unter ein festes Dach, in ein geregeltes Leben. Bald wird Hermann einen Ausweis erhalten, eine Krankenversicherung und einen Platz im Wohnheim - Puhls Mitarbeiter werden ihm all das beschaffen. "Die Nacht damals hatte minus acht Grad", erinnert sich der Leiter. "Das hätte auch schiefgehen können."

Dafür, dass in Berlin niemand der Kälte zum Opfer fällt, gibt es eigentlich ein System: 415 Notübernachtungsplätze, dazu 5000 Betten in Wohnheimen und ein Netz von Hilfsangeboten verschiedener Trägern, gefördert von der Senatssozialverwaltung. Dem gegenüber steht eine Zahl von mehr als 10 000 Obdachlosen. Und der "Zuzug" aus Ost-Europa hält an. Der Bedarf, den die Sozialverwaltung in Sachen Unterbringung für diesen Winter nennt, liegt bei weiteren 85 Notübernachtungsplätzen. Man habe die Bezirke gebeten, diese einzurichten, erklärt Sprecherin Regina Kneiding. Obwohl die Erweiterung schleppend verläuft, seien Platzprobleme bislang nicht gemeldet worden, sagt Kneiding. "Gut ausgelastet ist das System aber."

Lebensmittel für die Ärmsten

In der Bahnhofsmission, wo es die Ärmsten Berlins mit gespendeten Lebensmitteln zu verpflegen gilt, sieht man die Gesichter hinter den Zahlen. Bei einer Tasse Kaffee sitzt dort der 20-jährige Matthias, wegen seiner Trunksucht von der Freundin in Köln aus der Wohnung verbannt, am Ende einer Odyssee durch Deutschland angelangt in Berlin. Warum? "Weil es hier leichter ist, über die Runden zu kommen", entgegnet der gelernte Feldkoch. Seit seiner Ankunft zog er von Nachtcafé zu Nachtcafé, schlief reihum in allen Notunterkünften. Unbehaglich empfand er nur diejenige in der Lehrter Straße am Hauptbahnhof. Wegen dem Geruch und dem Milieu. "Wer da Ärger macht, fliegt raus", sagt Matthias. Das alles ist kein Thema mehr, nun da er in einem Wohnprojekt für trockene Alkoholiker lebt. Auch Tischnachbar Wladimir, aus Bulgarien zugereist, um in Deutschland Arbeit zu suchen, blieb nächtliches Frieren auf der Straße erspart. "Die Leute sind hier so freundlich. Sie helfen Fremden", sagt der 22-Jährige auf Englisch, betrachtet den Schoko-Nikolaus neben dem Teller. Sein Dessert. "In meinem Land ist das nicht so."

Matthias und Wladimir sind Männer, die in der Lage sind, zur richtigen Zeit an der richtigen Tür zu stehen. Die Ärztin Jenny De la Torre kennt die anderen Fälle. In ihrem Gesundheitszentrum für Obdachlose erlebt sie die Psychotischen, die Unverträglichen, die "Nicht-Wartezimmer-Tauglichen". Keine Versicherung und kein Geld? Für De la Torre kein Problem. Seit 2006 behandelt sie Hauterkrankungen, Atemwegsinfekte, Alkoholismusfolgen. Sie verarztet Sturzverletzungen, Hundebisse, Erfrierungen und Verbrennungen. "Das kommt davon, wenn man zu nah an einer Heizung schläft."

Zu wenige Notunterkünfte

Die Notunterkünfte? Deren Zahl empfindet die gebürtige Peruanerin als zu gering. Vor allem aber fehle dort die soziale Betreuung. "Es ist laut, voll, viele sind betrunken. Nachtruhe kehrt nur schwer ein." Ein Grund, weshalb manch Obdachloser freiwillig draußen schläft. Auf lange Sicht, glaubt De la Torre, hilft ohnehin nur eine Therapie: "Dauerhaft runter von der Straße." Wenn man dies konsequent umsetzen wollte, so hätte das seinen Preis. Mehrere zehntausend Euro. So viel Geld bräuchte es nach Schätzung von Dieter Puhl, bis einer dieser Menschen in die Gesellschaft zurückgelangt. Puhl glaubt daran, dass es sich lohnt: "Wir sollten niemanden aufgeben."

Was dieser Satz bedeutet, das erfuhr Hermann im Hinterstübchen der Mission. Wenn seine Füße verheilt sind, wird er dieses Bett verlassen. Und dann nie mehr an diesen Ort zurückkehren. Das ist der Deal. Sein Zimmer soll dann eine medizinische Ausstattung erhalten, soll Kranken und Geschwächten offenstehen. Denn wenige Tage in der Wärme könnten darüber entscheiden, ob der Winter heil überstanden wird.

Sozialnetz reicht nicht aus

Mehrheit erwartet mehr Hilfsangebote für Obdachlose

Dass Obdachlosen nicht genügend geholfen wird, glaubt die Mehrheit (64 Prozent) unserer Leser, die bei der Frage zur Reportage der vergangenen Woche abgestimmt haben.Insgesamt 36 Prozent betrachten die vorhandenen Hilfsangebote als ausreichend. Dieses Ergebnis bestätigt den Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, Dieter Puhl, darin, dass eine Verstärkung der Bemühungen dringend nötig ist. Dabei hält er die Ausgangssituation in der Hauptstadt für solide. "Deutschland hat für Wohnungslose eines der besten Hilfesysteme in Europa, Berlin wohl die besten Angebote Deutschlands. Notübernachtungen, Kältebusse, Steetworker sind in vielen Kommunen nicht selbstverständlich", so Puhl. Andererseits müsse man auch bedenken, dass bei den oft suchtmittelabhängigen, psychisch beeinträchtigen Menschen auf der Straße ein Höchstmaß an Hilflosigkeit vorliegt. "Hier gilt es, mit Fantasie, Fachwissen und auch Geld weitere Hilfen zu entwickeln."Schon jetzt wirksam sind die Bemühungen der Berliner Bürger zum Wohle der Wohnungslosen. Puhl berichtet von einer Welle der Zuwendung, vor allem in Form von Sachspenden. Kleider, Schlafsäcke, Schuhe - "alle zwei Minuten klingelt es an der Tür".

Wie man Obdachlose unterstützt

Seit 2006 betreibt die Ärztin Jenny De la Torre in der Pflugstraße 12 in Mitte ein Gesundheitszentrum für Obdachlose, finanziert durch ihre Stiftung. Seitdem verzeichnete sie mit ihrem Team aus ehrenamtlichen Ärzten und Pflegern fast 16 000 Besuche und hilft den mittellosen Patienten nicht nur medizinisch. Sie können sich auch in der Suppenküche stärken, juristisch beraten, einkleiden und frisieren lassen. Gebeten wird um Geldspenden unter der Kontonummer: 11 41 480 700, Bankleitzahl: 430 609 67 an den Kontoinhaber "1000 mal 1 Euro e.V." unter dem Betreff "Jenny De la Torre-Stiftung." Ebenfalls dringend auf Geldspenden angewiesen ist die Bahnhofsmission am Zoologischen Garten, die rund 600 Bedürftige pro Tag verpflegt. Überweisungen gehen an den Kontoinhaber "Bahnhofsmission am Zoo" unter der Kontonummer 31 81 907, Bankleitzahl: 100 205 00. Als Sachspenden gefragt sind Schuhe ab Größe 46, Rucksäcke zum Verstauen von Habseligkeiten und vor allem Schlafsäcke. Wer einen hilfebedürftigen Obdachlosen entdeckt, kann den Kältebus der Berliner Stadtmission anrufen unter 0178-523 58 38.

Thomas Schubert / tsc
Jenny De la Torre kuriert in ihrer Praxis die Leiden der Ärmsten. Um dauerhaft gesund zu werden, glaubt sie, muss man weg von der Straße. | Foto: Thomas Schubert
Katrin und ihr Hund Luke haben zwar inzwischen wieder ein Dach über dem Kopf. Sie lassen sich weiter in der Bahnhofsmission verköstigen. | Foto: Thomas Schubert
Autor:

Thomas Schubert aus Charlottenburg

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