Bahnhofsmissions-Chef warnt vor Löchern im sozialen Netz
Wie beurteilen Sie die Situation der Obdachlosen in diesem Winter?
Dieter Puhl: Ich gehe davon aus, dass derzeit mindestens 4000 Menschen auf der Straße leben. Für sie haben wir 500 Notübernachtungsplätze. Das heißt, 500 sind einigermaßen gut versorgt - und es bleiben 3500 übrig, denen entsprechende Angebote fehlen.
Welche Ursachen sehen Sie für die steigende Zahl von Hilfsbedürftigen?
Dieter Puhl: Ein wichtiger Punkt ist der, dass wir immer seltener bereit sind, angeschlagenen Menschen einen Platz in unserer Gesellschaft zu bieten. Im letzten Jahr gab es eine interessante Untersuchung in München, die besagte, dass ein wohnungsloser Mensch vor dem Verlust der Wohnung im Schnitt sechseinhalb Jahre sozial auffällig war. Wenn wir sechseinhalb Jahre lang mitkriegen, dass ein Nachbar über uns Lärm macht, kauzig ist, zu müffeln beginnt, zum Messie wird, dann sind sozialpsychiatrische Dienste gefragt. Um sie zu alarmieren, braucht es uns Nachbarn und Privatpersonen. Natürlich nimmt auch die Zahl von Menschen aus Osteuropa zu. Leute, die in Warschau oder Moskau erfrieren würden. In Berlin erfrieren sie nicht, sie verhungern nicht, Herzlichkeit fehlt aber auch hier.
Sie sprechen davon, dass man über 10 Millionen Euro in die Hand nehmen müsste, um Abhilfe zu schaffen. Können Sie uns Ihre Rechnung erläutern?
Dieter Puhl: Nach meinem Kenntnisstand sind in den letzten Jahren viele Leistungen für wohnungslose Menschen abgeschmolzen worden. Ohne Hilfe von Bürgern würde allein die Bahnhofmission am Zoo jedes Jahr mit einem Minus von 120.000 Euro abschließen - auch für einen kirchlichen Träger ist das zu viel. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre wurden nicht aufgefangen, Mittel wurden eher noch gekürzt; bei Streetworkern, Notübernachtungen, Tagesstätten und ärztlicher Versorgung. Das war früher alles reichhaltiger und angemessener. Alles zusammen ergibt für mich einen Hilfsbedarf von 10 Millionen Euro. Mindestens.
Die Eröffnung von luxuriösen Hotels und neuen Shoppingadressen führt zur Aufwertung der City West. Welches Verhältnis haben Sie zu solchen Nachbarn?
Dieter Puhl: Wir haben ein entspanntes Verhältnis zu den meisten am Zoo. Mitarbeiter des Waldorf Astoria und der C/O Foundation arbeiten bei uns mit, der Präsident des Oberverwaltungsgerichts sammelte Spenden. Es gibt nur einige wenige Ausnahmen, und wir werden versuchen, auch diese Menschen mitzunehmen - wohl wissend, dass die Bahnhofsmission ein schwieriger Nachbar ist.
Haben Sie Verständnis für Mitbürger, die bettelnden Obdachlosen aus Prinzip nichts geben?
Dieter Puhl: Ich sehe, dass es immer mehr Leute gibt, die meinen, dass sie selbst im Leben zu kurz kommen und sich nicht versorgt oder angenommen fühlen. Solche Menschen neigen manchmal dazu, in ihrer Seele sehr eng zu werden. Die Großzügigkeit schläft ein. Wenn Sie fragen, wie ich damit umgehe: Ich kann nicht die Not der ganzen Stadt auf meine Schultern laden. Aber ich helfe als Privatperson mindestens einem Menschen am Tag finanziell. Wer total angeschlagen aussieht und streng riecht, der braucht meine Hilfe am meisten. Ich gebe die 50 Cent auch gerade dann, wenn er alkoholkrank ist. Denn wenn er nicht trinkt, könnte er ohne ärztliche Hilfe sterben. Und an eine Einrichtung, die mit diesem Menschen an seiner Resozialisierung arbeitet, gehen weitere 50 Cent.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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