Rauschgiftszene im großen Stil am Stuttgarter Platz
Jeden Morgen, bevor die Kita "Cheburashka" ihre Türen öffnet, stülpt sich Silvia Beck dicke Handschuhe über und geht auf die Suche, durchstöbert den Sandkasten und Holzhütten nach weggeworfenen Spritzen. Wenigstens die Spielplätze - das ist hier so wie überall am Stuttgarter Platz die Abmachung der Ansässigen - sollen sicher sein. "Es gibt Automaten, die Spritzen ausgeben. Aber keinen Behälter, in die man die gebrauchten einwirft", schildert Beck als stellvertretende Leiterin der Kita den Kern der Misere.
Spielplätze als letzte Inseln im Einflussbereich der Drogenszene - das ist am "Stutti" Status quo. Und wenn sich Kita-Leiterinnen Handschuhe anziehen müssen, sind auch die Inseln noch in Gefahr. "Dieses Problem müssen wir in den Griff bekommen", fordert Bernd Schwarz vom Bezirkselternausschuss. Der Grünen-Politiker sprach beim neu anberaumten Runden Tisch für das Drogenproblem entlang der U 7 stellvertretend für etliche Eltern, die um das Wohlergehen ihrer Kinder fürchten. Einigkeit besteht darin, dass hier ein akutes Problem chronisch wurde.
So spricht Astrid Leicht als Verantwortliche des Vereins Fixpunkt von einer "exponenziell gestiegenen Nachfrage" bei Drogensüchtigen an diesem Ort. Und obwohl Fixpunkt inzwischen an sechs Tagen pro Woche mit einem Präventions- und einem Konsummobil am "Stutti" steht, hat man die Kapazitätsgrenze wieder erreicht. Etwa 20-mal pro Stunde werde im Wohnwagen kontrolliert gespritzt. Wer im Wagen keinen Platz mehr finde, gehe ins Gebüsch. Auch Harald Chybiak von der Polizeidirektion 2 kann die Zunahme des Problems bestätigen. In Berlin gebe es etwa 5000 Heroinabhängige, die sich täglich mit der Substanz eindecken würden. Man rechne mit bis zu 1,5 Millionen Handelsvorgängen im Jahr - wegen der guten Verkehrsanbindung vornehmlich am Stuttgarter Platz.
Wenn die Polizei durchgreift, stehen die Hintermänner der Dealer im Fokus, denen man ihre Tat aber so nachweisen muss, dass sie möglichst lange ins Gefängnis wandern. Ein Unterfangen, mit dem in Berlin 200 Beamte betraut sind. Hinzu kommen Zivilfahnder und Streifen der BVG.
Aus Sicht der Polizei, der Verkehrsbetriebe und des Bezirks gilt es, die bekannten Handelsorte möglichst sauber, übersichtlich und hell zu gestalten, um ihnen die Attraktivität zu nehmen. Konsens besteht darin, dass man die Szene durch rigoroses Eingreifen nicht zerstört, sondern nur verlagert.
Mit solchen Aussagen unzufrieden zeigte sich der Anwohner des Stuttgarter Platzes Helmut Frentzel, der bereits 2009 den Anstoß gab, am Runden Tisch eine Grundlage zum Handeln zu finden. Seitdem habe sich das Drogenproblem drastisch verschlimmert - und die Gesprächsrunde stünde wieder am Anfang. "Warum muss die Szene am Stutti so festgenagelt werden?", fragt er in Anbetracht der Tatsache, dass hier Familien mit Kindern deshalb scharenweise wegziehen.
Frentzel blieb mit seinem Unverständnis nicht allein. So kamen in der Runde Anwohner zu Wort, die inzwischen selbst die Handzeichen kennen, mit denen ein Käufer klarmacht, ob er Kokain wünscht oder noch härtere Substanzen. Andere wechseln mehrmals im Jahr ihre Türschlösser, weil sich die Szene bis in die Hausflure verlagert. Und ein Mieter aus der Gervinusstraße befürchtet bereits den drogenpolitischem "Bankrott".
Auch wenn er kein Patentrezept präsentierten konnte, verwahrte sich Sozialstadtrat Carsten Engelmann (CDU) gegen den Eindruck, der Bezirk bleibe untätig. "Wir arbeiten im Hintergrund sehr hart an Lösungen", versicherte er den Gästen. Sofortigen Handlungsbedarf sieht er vor allem bei den Spritzen. Engelmann will nun mit seinen Bezirksamtskollegen beraten, wie man diese Gefahr für Kinder in den Griff bekommt.
Drogenproblem ist Chefsache
Ein Kommentar von Thomas Schubert
Am Stuttgarter Platz mögen die gleichen Gesetze gelten wie im Rest des Landes auch. Aber wer sich hier eine Dosis Heroin besorgen möchte, hat offenbar gute Chancen, in kürzester Zeit die gewünscht Ware zu erhalten -und den Dealer unbehelligt verschwinden zu sehen. Der Ausnahmezustand - am "Stutti" ist er Normalität. Und die Anwohner? Sie leben in einer dauerhaften Alarmstimmung. Doch es ist nicht Aufgabe von Kita-Personal, Sandkästen nach Spritzbestecken abzusuchen. Und es kann kein Vertrauen erwecken, wenn Bürger der Polizei telefonisch Beobachtungen melden, während Drogendealer am stadtweit bekannten Umschlagplatz für Heroin mit der U-Bahn entschwinden. Dass man die Szene mit starker Polizeipräsenz nur verdrängen würde, kann niemand bestreiten. Aber muss es deshalb das andere Extrem sein? Müssen sich Dealer so unbehelligt fühlen, dass sie demonstrativ vor jedermanns Augen Rechtsbrüche verüben? Es darf nicht Hauptinhalt des Runden Tischs bleiben, dass die Verantwortlichen bei Bürgern um Verständnis dafür werben, dass ihr Handlungsspielraum enge Grenzen hat. Sie erwarten von den Ordnungsinstanzen nicht die Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Aber sie möchten ihre Kinder unbesorgt spielen lassen. Und ein Konzept, das die Problematik bis zum Ende denkt. Denn wo Spritzbestecke aus einem Automaten zu ziehen sind, darf ein Behältnis zur hygienischen Entsorgung nicht fehlen. Abhilfe beim Spritzenproblem wäre zumindest ein kleiner Fortschritt für den "Stutti" - und ein wichtiges Zeichen für die Drogenpolitik im Bezirk.
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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