Etappe des positiven Wahnsinns

Wenn eine Fahrradtour zum Überlebenstraining wird. In einer großen Schleife von Petershagen nach Friedrichshagen

Der Himmel hat sein stählernstes Blau, ich dagegen habe großzügig Sonnencreme aufgelegt. Achtzehn Teilnehmer nehmen so wie ich den langen Weg zum gefühlten Ende der Welt auf sich. Der S-Bahnfahrer muss eine Stunde nur den Schienen folgen und fährt im Grunde genommen immer nur geradeaus. In Petershagen Nord liegt im wortwörtlichen Sinne der Hund begraben. Da bin ich einigermaßen erleichtert als ich die Ketten zum Antrieb nutzenden Kollegen beim Aussteigen in dieser menschenleeren Gegend erblicke.

Der Tourenleiter ist, weil es sich um seine erste offizielle Streckenleitung handelt, so nervös, dass er beim Sprechen kaum Luft bekommt. Es ist seine Leib-und-Lebensstrecke, die wir heute abfahren. Sie ist nicht via Google Maps oder Stadtplan, sondern aus fünfzigjähriger Verbundenheit zur Natur entstanden. Er kennt jeden Schleichweg. Und er kennt kein Pardon. „Wir kommen an acht stillgelegten Wassermühlen und neun Gewässern vorbei. Für mich zählt die Umgebung, nicht der Untergrund.“ Als er das sagte, dachte ich mir gar nichts dabei. In der Kurzbeschreibung war von „teilweise schmalen Waldwegen“ die Schreibe. Gut, da habe ich schon anderes gemeistert.

Vogelgezwitscher mit Tiefsand

Nichts scheint uns bei schwülen Temperaturen aufhalten zu können. Denkste, uns hält nach wenigen Metern die S-Bahnschranke auf. Im Nachhinein muss man es als Vortäuschung falscher Tatsachen werten, denn wir radeln gerade über glatten Asphalt. Der Tourenleiter serviert Vogelgezwitscher mit Tiefsand. Und es ist lediglich die Vorspeise. Keiner sollte ab sofort Angst davor haben, sich dreckig zu machen. Frauen mit Körbchen kommen sich reichlich deplatziert vor. Es ist eine anstrengende Mountainbiketour, die sich auf hohem Brutalitätsniveau bewegt. Es ist eine Etappe des positiven Wahnsinns.

Die Steigerung von schöner, unbewirtschafteter Wald heißt Süßer Grund. Denn den durchackern wir mehr als wie ihn durchfahren. Es handelt sich um einen Wanderweg mit riesigen Wurzeln, die hals- und beinbrecherisch für geübte Spaziergänger sind, wie viel mehr für Radfahrer. Die steilen Treppen sorgen für Stöhnen, die gemeingefährlichen, tiefen Sandwege für Sattelabgänge, nicht immer auf die Elegante. Wenn’s gut geht, macht man bloß Bekanntschaft mit weichem Sand, wenn’s weniger gut geht, streift man die Brennnessel. Mir ist das Glück hold, ich komme mit meinen dicken unfallfrei durch, schwitze nach der Anstrengung gewaltig.

Ab jetzt wird der Weg besser

„Ab jetzt wird der Weg besser“, verkündet der selbstsicherer werdende Tourenleiter, weil wir verstehen, was ihn an der Gegend begeistert und weil sich erstaunlicher Weise keiner lautstark beschwert, beim kurzen Blick auf den großen Stienitzsee. Stimmt, auf den Planken bis zum nahen kleinen Stienitzsee trifft es zu, aber danach wird es schlimmer als je zuvor. Nein, beim ersten Stopp hat anfangs keiner einen Blick für die erste Wassermühle des Tages, die halb verrottet fast so funktionstüchtig anmutet wie unser aktueller körperlicher Zustand, sondern nur für die Wasserflasche in der Radtasche.

Wir quälen uns durch eine abgesperrte Baustelle, längst fühlen wir uns als Sandstrecken-Profis, um durch das Naturschutzgebiet Lange Dammwiese und im Annatal, so heißt der Wald, dem Annafließ, so heißt das Rinnsal, zu folgen. Selbst ein durchtrainierter Radsportler unter uns spricht danach von einer sportlich ambitionierten Tour. Heftige Anstiege auf losem Terrain sorgen dafür, dass ich mich nach gerade mal zehn Kilometer wie nach fünfzig Kilometern fühle. Es ist kraftraubend, diese hügeligen Wanderwege zu meistern. So schön die Gegend auch ist, die Konzentration wird voll vom Radfahren absorbiert, da bleiben kaum freie Ressourcen, um mal nach links und rechts zu schauen.

Dann gilt es die nächste Wassermühle zwangszubestaunen. Ehe wir bei der Umrundung des Herrensees, hohe Wurzeln, tiefer Sand und es gibt sogar eine kleine morastige Stelle, unser Meisterstück hinlegen. Ob alles okay sei oder ob wir irgendwelche Wünsche hätten, fragt der Tourenleiter. Wir sammeln ironisch unsere Anliegen: mehr Wurzeln und häufiger Hunde, die einem plötzlich vors Fahrrad laufen.

Nach vierundzwanzig Kilometern eine Badepause am Bötzsee, dessen Uferstrecke eine körperliche Beanspruchung abverlangt, dass selbst ich als Nichtschwimmer mich kurz ins Wasser traue, wenn auch nur mit den Unterarmen. Sehr ausdrucksstarke Gegend, sehr anstrengend. Immer ein Aufatmen, wenn man mal anständig zu befahrenden Untergrund vor sich sieht, dann gleich wieder Waldstrecke, der Schatten spendet und wo ein kleines Lüftchen weht – um auch mal die positiven Dinge zu erwähnen. Bald ist alles wieder wie gewohnt, wurzlig und sandig. Wir sind völlig verdreckt vom Staub.

Dorf in Sicht

Wir gehen ins beste Eiscafe des Dorfes, vermutlich ist es das Einzige, deren Spezialität drei Kugeln Vanilleeis mit Erdbeeren für 3,00 Euro sind. Darauf freute sich Beate schon den ganzen Tag, was sie mit ihren Eistüten-Ohrclips bekundete, auf die sie nun alle hinweist und damit allgemeine Bewunderung auslöst.

Kurzer Abstecher zum Fahrradhändler, der besonders originell mit Unmengen von Rädern an der Brandwand des Hauses wirbt … Schluss mit lustig, es wird weitergefahren. Wir hatten die Sandstrecken auch echt vermisst. Das Neuenhagener Mühlenfließ lässt alle Wünsche auf etwaigen Fahrkomfort vermissen, aber wir hatten nichts anderes erwartet. Am weitläufigen Pferdekoppelgebiet in Hoppegarten durch, wir begegnen keinen Pferden, nur Sandstrecken, biegen auf den nächstbesten Wanderweg ins Erpetal ab. Letzte Wassermühle vorm Bahnhof. Obgleich es so gar nicht danach aussieht, wir befinden uns in der Großstadt Berlin, wo wir nach zwei Kilometer lärmendem Verkehr beim Scheidebecher Bier völlig verdreckt in Friedrichshagen sitzen. Und alle mächtig stolz sind, das Abenteuer überlebt zu haben.

Autor:

Norbert Michaelis aus Charlottenburg

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