Obdachlose in Berlin
André Hoek und Klaus Seilwinder waren obdachlos – nun helfen sie anderen
Berliner Straßen können ein hartes Pflaster sein, vor allem, wenn man auf sich gestellt draußen überleben muss. Zwei, die am eigenen Leib zu spüren bekommen haben, was es heißt, obdachlos zu sein, sind André Hoek und Klaus Seilwinder. Sie haben es zurückgeschafft ins geregelte Leben, losgelassen hat sie die Straße aber nicht so ganz. Aus voller Überzeugung unterstützen sie deshalb soziale Projekte, die sich mit Obdachlosigkeit beschäftigen.
Obdachlosigkeit ist viel mehr als ein äußerlich wahrnehmbarer Mangel, meint André Hoek. Sie zeichne auch die Seele. Er und Klaus Seilwinder haben das selbst erfahren. Eine Zeit ihres Lebens schliefen sie nachts draußen, aßen, was sie finden oder erschnorren konnten, lebten als Obdachlose quasi außerhalb der Gesellschaft. Auf der Straße, sagen sie einhellig, leide auch das Selbstwertgefühl massiv.
Sich dafür zu schämen, abhängig von Almosen zu sein, täglich Verachtung zu spüren, schutzlos und immer wachsam zu sein, weil „jederzeit alles passieren kann“, wie Hoek sagt – das verändere Menschen. Im harten Konkurrenzkampf um Pfandflaschen und um die Aufmerksamkeit der mit sich selbst beschäftigten Großstädter müssen Straßenbewohner sich trotz aller Härten sympathisch verkaufen, werden dennoch oft voreilig verurteilt. Das drückt, kratzt, bohrt an der Seele.
Niemals Privatsphäre
Seilwinder und Hoek können sich in diesen Zustand einfühlen. Deshalb arbeiten sie daran, anderen begreiflich zu machen, was jemand empfindet, der kein warmes, sicheres Zuhause hat und niemals Privatsphäre. Als Stadtführer beim gemeinnützigen Verein querstadtein leiten die beiden Touren zu ihren ehemaligen Schlafplätzen. Die Teilnehmer erfahren, warum es lebensbedrohlich sein kann, wenn ein Schlafsack nass wird, von Rangkämpfen unter Pfandsammlern und dem gefährlichen Dasein eines Einzelgängers, den niemand vermisst.
„Solidarität und Hilfsbereitschaft hat etwas mit Verständnis und Empathie zu tun“, sagt Hoek. „Seit ich auf der Straße gelebt habe, habe ich viel weniger Vorurteile“, ergänzt Seilwinder. Wer realisiert habe, was es bedeutet, sich täglich einem Überlebenskampf zu stellen, könne Obdachlose nicht mehr schlicht als Schmarotzer abtun. Denn hinter jedem steckt ein Schicksal.
Viele Teilnehmer der querstadtein-Touren beschäftigt der soziale Abstieg, der auf die Straße führt. Wie wird man eigentlich obdachlos? „Obdachlose sind ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Es gibt Menschen mit Gefängniserfahrung, welche, die Schicksalsschläge erlebt haben, Suchtkranke, aber auch Akademiker. Oft haben die Menschen einfach Pech gehabt“, sagt Hoek. So wie er selbst. Er war Webdesigner auf Gran Canaria, verheiratet, doch dann verließ ihn seine Frau. Er verfiel dem Alkohol und stürzte in Depression, konnte seine Miete in Spanien nicht mehr zahlen und kehrte nach Berlin zurück, wo er über ein Jahr auf der Straße lebte.
Was Menschen aus der Bahn werfen kann
Klaus Seilwinder zog es nach wenig aussichtsreichen beruflichen Stationen in Brandenburg, wo er bereits seit Langem alkoholsüchtig war, 2002 nach Berlin. Eine Perspektive hatte er dort nicht. Zunächst kam er in der Bahnhofsmission unter, doch das aggressive Gerangel dort schreckte ihn ab. So schlug er sich schließlich sieben Jahre lang allein auf den Straßen durch, bis ihn ein Freund aufnahm und ihn motivierte, sein Leben umzukrempeln. Oft sind es schlicht unglückliche Umstände, die Menschen aus der Bahn werfen. Mit dieser Erkenntnis werden die Teilnehmer der querstadtein-Touren entlassen.
Bei anderen dieses Verständnis zu schaffen, ist aber nur ein Anliegen, das Hoek und Seilwinder verfolgen. Wichtig ist ihnen auch, Obdachlosen Selbstbewusstsein und Perspektiven zu geben. Sie engagieren sich in der Obdachlosen-Uni, einer Initiative, die seit 2012 Kurse für alle anbietet, vor allem für jene, die kein eigenes Dach über dem Kopf und wenig Möglichkeit haben, Bildungsangebote zu nutzen.
Kochen kann man dort lernen, sich gut zu bewerben oder Englisch. Unterrichtet wird das nicht von dekorierten Akademikern, sondern von Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Erfahrung mit den Themen haben. So spricht Seilwinder etwa darüber, wie er es von der Straße weg geschafft hat.
Engagement in der Obdachlosen-Uni
Ursprünglich sollte die „O-Uni“ sich vor allem an Obdachlose richten. Doch das hat sich als schwierig erwiesen, denn die meisten haben den Kopf voll mit existenziellen Problemen. „Wohnungslose, die bereits erste Anknüpfungen haben, zum Beispiel an eine Wohnungsloseneinrichtung, haben die ersten Hürden dagegen bereits genommen. Der tägliche Kampf um Schlafplatz und Essen ist etwas harmloser geworden und das setzt Zeit frei, um sich mit Bildung zu beschäftigen“, sagt Maik Eimertenbrink, der das Projekt initiiert hat.
Um gezielt Obdachlose anzusprechen, fehlt momentan noch das Personal. Dazu bräuchte es professionelle Streetworker, meint Eimertenbrink, und mehr Menschen wie Seilwinder und Hoeck, die als ehemalige Obdachlose leichter Zugang finden. „Die beiden als ‚waschechte‘ Streetworker einzustellen wäre natürlich das nächste große Ziel. Vielleicht gelingt es ja der Obdachlosen-Uni, dafür Gelder einzutreiben – über den Senat oder andere Stellen.“
Zwischen 3000 und 11 000 Betroffene
Am 1. Oktober ist die Berliner Kältehilfe mit dem Ziel gestartet, diesen Winter 1000 Schlafplätze für Obdachlose zu schaffen. Wie viele Menschen genau auf Berlins Straßen leben, dazu fehlt immer noch eine Statistik, die zentral alle verfügbaren Daten erfasst. Sie ist aber in Arbeit. Geschätzte Zahlen reichen von 3000 bis zu 11.000. Dass sich zunehmend Menschen in dieser misslichen Lage befinden, ist jedoch unstrittig. Es liegt auch an den vielen EU-Bürgern, die in Deutschland ein besseres Leben suchen, dann aber an Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen, hohen Mieten und fehlenden Kontakten scheitern.
Die Stadt ringt um Konzepte, um der schwierigen Situation zu begegnen, während gemeinnützige Organisationen und Kirchen praktische Hilfe leisten, mit Unterkünften, Beratungsangeboten und Essensausgaben. Doch essen, trinken und schlafen sind nicht die einzigen Grundbedürfnisse eines Menschen. Es braucht auch den Respekt der anderen und das Gefühl, trotz allen persönlichen Elends immer noch als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.
Nachtrag: Kurz nach Redaktionsschluss erreichte uns die Mitteilung, dass André Hoek inzwischen als Streetworker beim Verein Karuna arbeitet, der sich für Straßenkinder einsetzt.
Autor:Josephine Macfoy aus Schöneberg |
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