"Kristallnacht", "Pogrom", "antijüdischer Terror"
Der 9. November 1938 und der Umgang mit ihm: Ausstellung in der Topographie des Terrors
Die Bezeichnung "Kristallnacht" werde doch aus nachvollziehbaren Gründen inzwischen nicht mehr verwandt. Warum tauche sie dann in der Überschrift wieder auf?
Diese Frage stellte ein Kollege bei der Vorstellung der neuen Sonderausstellung in der Topographie des Terrors. Sie beschäftigt sich mit den Ereignissen des 9. November 1938. Aber auch damit, wie in den folgenden Jahrzehnten daran erinnert wurde.
Unter dem verniedlichenden Ausdruck "Kristallnacht" wurde das massenweise Anzünden von Synagogen, Plünderungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen, Haft und die Ermordung tausender Menschen lange Zeit summiert. Und damit eine Art Distanz geschaffen. Er stehe in Anführungszeichen, machte Ulrich Baumann, Kurator der Ausstellung deutlich. Gleiches gilt für ihn auch bei der inzwischen eingeführten Umschreibung "Reichspogromnacht". Sie passe ebenso wenig, meinte der Kurator. Unter einem Pogrom wäre ein spontaner, von unten angezettelter Aufruhr einer Mehrheit gegen eine Minderheit in einem gleichzeitig schwachen Staat zu verstehen. 1938 gingen die Ausschreitungen aber von den NS-Machthabern aus. "Antijüdischer Terror", wie in der Unterzeile für die Schau formuliert, hält er deshalb für den noch am besten passenden Ausdruck.
Attentat als Vorwand
Dessen Vorgeschichte wird ebenfalls thematisiert. Nazideutschland verwies im September 1938 polnische Staatsangehörige jüdischen Glaubens des Landes. Polen nahm die meisten von ihnen nicht auf. Ein Großteil der Menschen verharrte bis zum Kriegsausbruch ein knappes Jahr später im Niemandsland. Wegen der Massendeportation verübte der 17-jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938 ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris. Der erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Für die NS-Machthaber war der Anschlag Anlass für eine "antijüdische Aktion". Sie wurde von Partei und SA inszeniert, die Kämpfer reichsweit mobilisiert. Von München aus, wo sich die Nazi-Elite aus Anlass des 15. Jahrestags des gescheiterten Novemberputsches von 1923 versammelt hatte.
Es waren Braunhemden, die sich noch in der Nacht bei den Brandstiftungen und Angriffen besonders hervor taten. Aber nicht nur. Auch "normale" Bürger wurden zum Mob. Das zeigte sich spätestens, als nach dem Krieg versucht wurde, die Verbrechen juristisch zu ahnden. Allein auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik kam es zu etwa 17 000 Ermittlungsverfahren und rund 1200 Prozessen. Dabei nicht mitgezählt ungezählte Gaffer, Menschen, die das Schauspiel anscheinend ganz anregend fanden. Bilder aus verschiedenen Orten, die in der Ausstellung zu sehen sind, zeugen davon. Eine Art makabres Volksfest spielte sich bisweilen ab. Die Zahl derer, die Scham oder gar Protest gezeigt hätten, sei nach allen bekannten Quellen dagegen eher überschaubar gewesen, stellte Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors fest.
Vergessen und verdrängen
Die kollektive Zeugen-, Mitwisser- und häufig Mittäterschaft ist ein Grund dafür, warum das Gedenken an den 9. November 1938 ebenfalls sehr spät einsetzte. Zwar gab es 1948 eine Erinnerungsfeier, federführend organisiert von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, sie stand aber lange als Solitär. In den 1950er-Jahren herrschte ein weitgehendes Vergessen und Verdrängen, was erklärt, warum der ursprüngliche NS-Begriff der "Kristallnacht" sich so lange halten konnte.
Die Studentenbewegung um das Jahr 1968 widmete dem antijüdischen Terror 30 Jahre zuvor ebenfalls nur wenig Aufmerksamkeit. Das hing spätestens seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 auch mit der distanzierten, teilweise feindseligen Haltung gegenüber dem Staat Israel zusammen. Erst für die späten 70er-Jahre konstatiert Ulrich Baumann eine Erinnerungswende in Westdeutschland. Anlässlich des 40. Jahrestags habe es zum ersten Mal eine weitgehend beachtete Gedenkfeier in einer Kölner Synagoge gegeben. Nicht nur ihr seien viele Initiativen von unten vorausgegangen. Unterstützt durch Vereinigungen wie Gewerkschaften oder Kirchen.
Auch in der DDR entwickelte sich eine, wenngleich weitgehend staatlich gelenkte, Gedenkkultur. Deren Höhepunkt bildete eine große Gedenkfeier in der Volkskammer anlässlich des 50. Jahrestages am 9. November 1988. Exakt ein Jahr vor dem Mauerfall.
Angst vor einer Wiederholung der Geschichte
Und heute? Es hat in diesem Jahr viele Veranstaltungen anlässlich der 80. Wiederkehr der Schreckenstage vom November 1938 gegeben. Das Datum scheint präsent, und viele setzen sich dafür ein, dass es so bleibt. Das müsse aber nicht nur in diesem Fall für immer so gewährleistet sein, warnte Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Mitkurator der Ausstellung. Er verwies auf die Forderungen aus einer bestimmten Ecke nach einer "erinnerungspolitischen Wende" oder die Bezeichnung "Vogelschiss" für die zwölf Nazijahre. Demgegenüber stehen die damaligen Taten ebenso wie ihre noch längst nicht vergangenen Auswirkungen. Und "was einmal passiert sei, könne auch ein weiteres Mal passieren."
Die Ausstellung ""Kristallnacht". Antijüdischer Terror 1938" ist bis 3. März 2019 in der Topographie des Terrors, Niederkirchner Straße 8, zu sehen. Geöffnet ist täglich von 10 bis 20 Uhr. Der Eintritt ist frei. Es gibt außerdem ein Begleitprogramm; www.topographie.de.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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