Leben ohne Lesen: Gerhard Prange ist Analphabet
Gerhard Prange ist offen, souverän und redebegabt. Dass der Mann kaum lesen oder schreiben kann, darauf käme niemand, der ihn nicht kennt. Aber mit Klischees, das wird schnell deutlich, ist der 61-Jährige nicht zu fassen.
Wir treffen uns im Mehringhof an der Gneisenaustraße. Gerhard Prange besucht dort zwei Mal in der Woche einen Alphabetisierungskurs beim Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB). Er wäre inzwischen in der dritten Klasse. Die langsam wachsende Fähigkeit, Buchstaben aneinander zu reihen und Worte zu entziffern, erschließe ihm eine neue Welt. Und er habe gelernt, dass es nie zu spät sei, das zu lernen, sagt Prange.
In Berlin soll es ungefähr 300 000 Personen geben, die vollständige oder teilweise Analphabeten sind. Heruntergerechnet auf Friedrichshain-Kreuzberg wären das mehr als 20 000. Eine hohe Zahl, die Gerhard Prange sogar noch als zu niedrig einschätzt. Wenn sie aber nur annähernd stimmt, wie kann es sein, dass so vielen Menschen Lesen und Schreiben anscheinend nie richtig vermittelt wurde? Und wie organisieren sie ohne diese Kenntnisse ihren Alltag? Gerhard Pranges Biografie gibt darauf einige Antworten.
Eltern waren schon Analphabeten
Schon seine Eltern seien Analphabeten gewesen, erzählt er. Er hatte noch sechs Geschwister. Vorlesen oder Geschichten erzählen habe er zu Hause nicht kennen gelernt. Während der Schulzeit wäre seine Schwäche zwar aufgefallen, aber nicht behoben worden. Gerhard kam in eine Sonderschule mit 40 Kindern in der Klasse. An speziellen Unterricht oder Einzelförderung war unter diesen Umständen nicht zu denken. "Manche Lehrer kamen noch aus dem Krieg". Als Zuchtinstrument war der Rohrstock im Einsatz. Abwechslung brachte in jenen Jahren nur ein längerer Aufenthalt in Schweden. Er behob zwar seine Lese- und Schreibdefizite nicht, dafür lernte Gerhard Prange die Landessprache. Nur nach Gehör.
Die Schwedischkenntnisse halfen aber wenig beim anschließenden Versuch, in Berlin eine Ausbildung zu machen. Die Lehre als Gas- und Wasserinstallateur musste er schon wegen der Anforderungen in der Berufsschule abbrechen. Es folgten 24 Jahre in einer Reinigung. Bügeln, falten, sortieren, das ging auch ohne Schreibkram. Ebenso wie spätere Arbeiten auf dem Friedhof oder einem Recyclinghof.
Ein ständiges Doppelleben
Oder vielleicht doch nicht ganz? Und was war außerhalb des Berufs? Viele alltägliche Situationen fallen einem ein, die mit Gerhard Prange durchgespielt werden. Es gab irgendeine Mitteilung der Firma. "Ließ ich mir von den Kollegen erklären." Gehaltsabrechnung, Schreiben vom Amt, Briefe. "Half mir mein Schwager". In einem Lokal, ohne dort die Speisekarte entziffern zu können. "Habe ich oft gesagt, ich nehme das Gleiche, wie mein Nebenmann. Und Pizza beim Italiener ging sowieso immer. Bevorzugt mit Thunfisch." Einkaufen. "Ich erkenne die Produkte am Aussehen. Und wenn ich auf Arbeit in den Laden geschickt wurde, merkte ich mir, was jeder wollte." Orientierung im öffentlichen Raum. "In vielen Gegenden in Berlin ohnehin kein Problem. Und wenn ich mich irgendwo nicht auskenne, frage ich." Er verfremdet seine Stimme, sie nimmt einen süddeutschen Sprachklang an. So erkundigt er sich nach dem Weg. Dem vermeintlichen Touristen wird natürlich geholfen.
"Analphabeten sind pfiffig", lacht Gerhard Prange und liefert gleichzeitig eine Erklärung für sein Redetalent. Aber was im Gespräch ganz witzig daher kommt, steht für ständiges Verstellen und damit einem Doppelleben, mit dem Menschen wie er konfrontiert sind. Selbst wenn das bei ihm manchmal Anklänge von großer Bühne hat, es bedeutet vor allem eine immense Kraftanstrengung. Und mag auch ein wenig Stolz auf manche Leistung mitschwingen, der 61-Jährige ist weit davon entfernt, seinen Werdegang zu idealisieren. Eher beschäftigt ihn der Gedanke, was gewesen wäre, hätte er sich schon vor Jahrzehnten intensiv darum gekümmert, das Handicap zu beheben.
Eintauschen in die Welt des geschriebenen Wortes
Einige Versuche habe es auch gegeben, die aber jeweils versandet seien. Angefangen bei einer Lehrerin, "in die ich verliebt war, die aber dann versetzt wurde", bis zu Anläufen schon in jungen Jahren, eine Leseschule zu besuchen. Abgebrochen wegen Alkoholsucht.
Überhaupt sei der erfolgreiche Kampf gegen diese Krankheit wahrscheinlich der Auslöser gewesen, das zweite Problem ebenfalls anzugehen. Dazu gehörte auch, es nicht länger zu verstecken. "Ich mache kein Geheimnis mehr daraus." Ein Outing, das selbst viele langjährige Bekannte überrascht habe. "Die wussten das bis dahin nicht."
Seither taucht Gerhard Prange Schritt für Schritt in die Geheimnisse von Wort und Schrift ein. Mühsam und mit Rückschlägen behaftet sei das manchmal. Gleichzeitig gebe es aber viele Erfolgserlebnisse. Er zeigt seine jüngsten Übungen, das Bilden ganzer Sätze. "Bitte kaufe Tomaten ein", steht da. Oder "Der Bus hat Verspätung". Auch mit der Lektüre geht es voran. Während der Olympia-Übertragungen konnte Gerhard Prange bisweilen den Videotext entziffern. Irgendwas wie "Der Adler ist gelandet", sei da nach der Goldmedaille des Skispringers Andreas Wellinger zu lesen gewesen.
Gefragt nach seinem persönlichen Ziel braucht er nicht lange zu überlegen. "Ich möchte noch mindestens so weit kommen, dass ich meiner jetzt 14-jährigen Tochter einen Brief schreiben kann."
Zum Hintergrund: Die Zahlen über den Anteil von Analphabeten in Berlin stammen unter anderem von der SPD-Bezirksverordneten Sevim Aydin. Sie kämpfte monatelang dafür, dass es auch in Friedrichshain-Kreuzberg ein sogenanntes Alpha-Bündnis gibt.
Unter dieser Bezeichnung sollen Barrieren für Menschen mit Lese- und Schreibschwäche abgebaut werden. Etwa in Ämtern, wo ihnen Piktogramme und Farbmarkierungen das Zurechtfinden erleichtern und Mitarbeiter besser auf sie vorbereitet werden sollen. Dabei ist auch der Rat der direkt Betroffenen gefragt. Gerhard Prange vermittelt seine Erfahrungen zum Beispiel bei Veranstaltungen mit dem Jobcenter.
Der Kontakt zu ihm entstand über Sevim Aydin. Kennen Sie jemanden, der bereit ist, über sein Leben als Analphabet zu sprechen? Sie bejahte und übermittelte wenige Tage später seine Telefonnummer.
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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