Mein Jahrhundert
Mit Ursula Kunz durch die Zeitgeschichte

Ursula Kunz, geboren am 16. Juni 1920. | Foto: privat
  • Ursula Kunz, geboren am 16. Juni 1920.
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Ihre Mutter und Schwiegermutter sei "geistig noch sehr aufgeschlossen", schrieben Horst und Irmgard Kunz. Das bestätigte sich nach einem langen Telefongespräch.

Ursula Kunz wird am 16. Juni 100 Jahre alt. Wenn Menschen in diesem Alter noch in der Lage sind, über ihr Leben zu erzählen und es zu reflektieren, dann bedeutet ein Gespräch mit ihnen lebendige Zeitgeschichte; im Fall von Ursula Kunz vor allem lebendige Kreuzberggeschichte.

Älter als Groß-Berlin: Geboren wurde Ursula Kunz als Ursula Thomas im alten Urbankrankenhaus. Aufgewachsen ist sie zunächst in der heute nicht mehr existierenden Franzstraße in der Nähe des Michaelkirchplatzes. Als sie im Juni 1920 auf die Welt kam, hieß nicht nur diese Gegend offiziell Luisenstadt. Wenige Monate später, als das Groß-Berlin-Gesetz im Oktober in Kraft trat, wurde die Luisenstadt zwischen den beiden neu geschaffenen Bezirken Mitte, zu der nun auch die Franzstraße gehörte, und, zunächst Hallesches Tor, ab 1921 Kreuzberg, aufgeteilt.

Die Rückkehr in ihren Geburtsbezirk erfolgte dann einige Jahre später, als sie zunächst mit ihren Eltern in die Pücklerstraße, "gegenüber der Markthalle", zog und nach ihrer Heirat mit Ehemann Werner dort ebenfalls eine Wohnung fand. Das war bereits 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg.

Lehre bei Wertheim: Eine der frühen Kindheitserinnerungen von Ursula Kunz ist der Bau der heutigen U-Bahnlinie 8. Die Baubaracken hätten damals in der Franzstraße gestanden. Auf Nachfrage, ob ihr auch noch der alte Moritzplatz geläufig sei, etwa das Kaufhaus Wertheim, kommt als Antwort: "Dort habe ich gelernt und zehn Jahre gearbeitet." Sie schwärmt vom Angebot und den Auslagen des einstigen Einkaufstempels. Er wurde während der Nazizeit "arisiert", seine jüdischen Eigentümer aus dem Unternehmen getrieben. Viele mussten emigrieren, einige wurden ermordet. Sie habe noch den alten Firmenchef Georg Wertheim (1857-1939) kennengelernt, erzählt Ursula Kunz. Der sei sehr nett gewesen.

Hochschwanger bei Kriegsende: Während des Endkampfs um Berlin im Frühjahr 1945 stand Ursula Kunz kurz vor der Geburt von Sohn Horst, der im Juni auf die Welt kam. Da war schon Frieden, aber es herrschte noch weitgehender Ausnahmezustand. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren, wenn überhaupt, nur auf einzelnen Strecken, weshalb sie den Weg ins Krankenhaus meist zu Fuß zurücklegte. Ihr Mann befand sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Erst 1949 kam er zurück, wurde danach in der Verwaltung tätig.

Zwischen Mauerbau und Mauerfall: 1959 bezog das Ehepaar eine Wohnung an der Johanniterstraße, in der Ursula Kunz noch immer lebt. Sie arbeitete damals im Hertie-Kaufhaus am Halleschen Tor. Und erlebte 1961 den Mauerbau, der auch die Gegend ihrer Kindheit in nahe weite Ferne rückte. "Zunächst habe ich gedacht, das wird sicher nicht lange so bleiben", erinnert sie sich. Es blieb dann 28 Jahre so.

Ehemann Werner starb kurz vor dem Mauerfall. Er hätte, so vermutet sie, wahrscheinlich Einwände erhoben gegen den Besuch bei einer alten Freundin in Baumschulenweg, zu dem sie zwei Tage nach der Grenzöffnung am 11. November 1989 aufbrach. Bei der Rückkehr sei sie am Bahnhof Friedrichstraße Teil der Menschenmassen geworden, die sich in Richtung Westen bewegt hätten. Beobachtet von einem Vopo, dessen Uniformknöpfe nicht mehr ganz akkurat saßen. Sich hier entgegen zu stellen, bringe nichts mehr, habe sie dem Volkspolizisten zugerufen.

Nichts ist schlimmer als Krieg: Natürlich bedeute die Corona-Zeit auch für sie Einschränkungen. Weniger Kontakte, etwa zu ihrer Kirchengemeinde, die sie normalerweise regelmäßig besuche. Mehr scheinen sie in diesem Zusammenhang aber die Belastungen für ihre zwei Enkel und zwei Urenkel zu beschäftigen. Und beim Einordnen der aktuellen Situation ihre Lebenserfahrung. Es gebe "nichts Schlimmeres als den Krieg", sagt Ursula Kunz. Dass Deutschland inzwischen ein dreiviertel Jahrhundert davon verschont geblieben sei, wäre ein großes Glück und sie hoffe, dass das weiter so bleibe.

Gibt es ein Geheimrezept? Natürlich habe es auch in ihrem persönlichen Leben Höhen und Tiefen gegeben, resümiert die 100-Jährige. Auch gesundheitlich. Als junge Frau sei sie auf der Köpenicker Straße mit einer Straßenbahn kollidiert und von einigen schon aufgegeben worden. Vor zwei Jahren hätte sie einen Darmverschluss erlitten. Sie sitzt auch im Rollstuhl. Aber ja, der Geist funktioniere noch. Und das sei ihr das Wichtigste.

Hat sie dafür eine Erklärung? Den einen oder anderen Tipp? Sich für vieles interessieren und nicht teilnahmslos in den Tag hineinleben, lautet eine Antwort. Regelmäßig Zeitung lesen, Rätsel machen, Fernsehen erst am Abend. Einigermaßen gesund leben. Keinen Alkohol. "Naja, nicht ganz".

Autor:

Thomas Frey aus Friedrichshain

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