Wo Tote gefeiert werden: Spurensuche auf den Friedhöfen am Halleschen Tor
Friedhöfe sind Oasen der Ruhe und gern genutzte Orte für Spaziergänge. Wer sich auf sie einlässt, kann eine Menge entdecken.
Jörg Sundermeier legt deshalb nahe, die Begräbnisstätten bereits aufzusuchen "bevor man stirbt". Darauf verweist der Untertitel seines Buchs über elf Berliner Friedhöfe. Darunter befinden sich auch die beiden großen Kreuzberger Grabanlagen: zum einen entlang der Bergmannstraße, wo der Autor sein Werk präsentierte, außerdem die Friedhöfe am Halleschen Tor zwischen Mehringdamm und Zossener Straße. Beschränken wir uns hier auf die Geheimnisse und Besonderheiten der Letzteren.
Die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor, so die korrekte Bezeichnung, wurden ab 1735 angelegt. Wie der Name bereits andeutet, handelt es sich dabei um mehrere Begräbnisorte, namentlich die Friedhöfe I, II und III der Gemeinde Jerusalem- und Neue Kirche, der Friedhof I der Dreifaltigkeitsgemeinde sowie die letzten Ruhestätten der Bethlehems- und Böhmischen Gemeindesowie der Brüdergemeinde. Vom Gottesacker der Böhmischen Brüder bestehen heute nur noch Reste. Ein Großteil wurde in den 1950er-Jahren eingeebnet, als im Zuge des Baus der Amerika-Gedenkbibliothek auch die Blücherstraße verbreitert wurde.
Unsterbliche Tote
"Wo Tote gefeiert werden" hat Jörg Sundermeier sein Kapitel über die Friedhöfe am Halleschen Tor umschrieben. Das klingt mystisch, aber auch naheliegend. Da ist zunächst das Gerücht, es habe auf dem Gelände einst ein "Leichen- und Rettungsgebäude für Scheintote" gegeben. Es passt ins Bild einer Begräbnisstätte, auf der sich viele Persönlichkeiten befinden, die eine Art Unsterblichkeitsstatus besitzen. Er drückt sich in einer regelmäßig gepflegten Erinnerung an manche bekannte oder auch weniger bekannte Tote aus. Und in mittlerweile zwei Fällen sogar durch einen eigenen Ausstellungsort. Der erste befindet sich seit 2013 in der ehemaligen Trauerkapelle des Dreifaltigkeitsfriedhofs und ist der Familie Mendelssohn gewidmet. Deren berühmtester Vertreter, der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy, ist ebenso dort begraben wie seine Schwester Fanny Hensel, auch sie eine Tonsetzerin und Pianistin, sowie 26 weitere Familienmitglieder. Die Mendelssohns waren Künstler, Bankiers oder Juristen. An dieser Dynastie spiegelt sich deutsche Geschichte, als Tiefpunkt ihre Verfolgung im Nationalsozialismus.
Die zweite Ausstellung gilt zu großen Teilen einer Person, die gar nicht dort zu finden ist: Carl Gotthard Langhans (1732-1808), der sich als Erbauer des Brandenburger Tors in der Berliner Historie verewigt hat. Heute erinnert in der Stadt wenig an ihn. Als 2008 sein 200. Todestag anstand, wurde das vor allem durch eine Ausstellung im Haus Schlesien in Königswinter am Rhein gewürdigt. Deren Exponate bilden den Grundstock für die Schau, die im Mausoleum Massute auf dem Friedhof zu sehen ist. Beziehungsweise derzeit erst einmal nicht. Denn nach der Eröffnung zum Tag des offenen Denkmals wurde sie wieder geschlossen. Der Grund: Es fehlt vor allem noch Geld für eine repräsentative Eingangstür. Die Berliner Langhans-Gesellschaft, die zusammen mit dem evangelischen Friedhofsverband Berlin Stadtmitte hinter diesem Projekt steht, versucht derzeit weitere Spenden aufzutreiben. Die letzte Ruhestätte von Carl Gotthard Langhans befindet sich in Breslau. Sein Sohn Carl Ferdinand (1781-1869), der ebenfalls als Baumeister wirkte, hat sein Grab dagegen in der Nähe des Mausoleums.
Architekten, Unternehmer, Schriftsteller
Bei den Friedhöfen am Halleschen Tor handelt es sich um die älteste Berliner Begräbnisstätte, auf der noch heute Beerdigungen stattfinden. Und so stehen die dort Bestatteten für die Stadtgeschichte von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Angefangen beim Architekten und Gartengestalter Georg Wenzelaus von Knobelsdorff (1699-1753) über den Arzt Albrecht von Graefe (1828-1870), Carl Heinrich von Siemens (1829-1906), Ernst und Richard Schering (1824-1889 beziehungsweise 1859-1942), deren Namen mit bedeutenden Industriebetrieben verbunden sind. Zu den bekannten Verstorbenen der jüngsten Vergangenheit gehören zum Beispiel der Maler Kurt Mühlenhaupt (1921-2006) oder die Filmregisseurin Helma Sanders-Brahms (1940-2014). Besonders stark vertreten sind Persönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter der Romantik. Etwa der schreibende und komponierende Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann (1776-1822). E.T.A. steht für Ernst Theodor Amadeus. Sein richtiger Name lautete allerdings Ernst Theodor Wilhelm. Deshalb befinden sich auf dem Grabstein auch die Initialen E.T.W. Amadeus hat sich Hoffmann selbst genannt, zur Erinnerung an sein musikalisches Vorbild Wolfgang Amadeus Mozart. Auch der Dichter und Naturforscher Adalbert von Chamisso (1781-1838), die Schriftstellerinnen und Salonbetreiberinnnen Henriette Herz (1764-1847) und Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833) gehören neben vielen anderen zu dieser Epoche.
Und wer gerade in dämmrigen und nebligen Novembertagen über die Friedhöfe läuft, vorbei an mancher verfallener Gruft, die an ein verlassenes Burgverlies erinnert, bekommt ein Gefühl für das Romantisch-Sagenhafte. Mit wenig Phantasie lässt sich ausmalen, dass dort plötzlich Trolle und Elfen auftauchen, E.T.A. Hoffmann, wie einst in der Weinstube Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt zu lustigem Gelage lädt. Deshalb kann Jörg Sundermeiers Überschrift auch so gelesen werden: Die Toten feiern sich hier selbst. Die Friedhöfe am Halleschen Tor sind im November, ebenso wie im Februar, täglich von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Im Dezember und Januar lauten die Öffnungszeiten 8 bis 16 Uhr, März und Oktober 8 bis 18, April und September 8 bis 19, von Mai bis August, 8 bis 20 Uhr.
Das Buch von Jörg Sundermeier „11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“ ist im be.bra-Verlag erschienen und kostet 16 Euro. Öffnungszeiten und Buch
Autor:Thomas Frey aus Friedrichshain |
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